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Das blaue Haus (German Edition)

Das blaue Haus (German Edition)

Titel: Das blaue Haus (German Edition)
Autoren: Marion Schreiner
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der Nacht verzweifelt fort.
Dann, eines Nachts, brachte ihn die Verzweiflung so weit, dass er sich körperlich auf einen Höchstzustand arbeitete. Seine Gehübungen wurden zu Dehnübungen, dann zu Kraftübungen. Er schaffte es, innerhalb weniger Sekunden sein Bett zu verlassen und wieder darin zu liegen. Er wusste nicht wann, und wie es geschehen war, aber plötzlich fand er sich abends stehend vor der Tür seines Zimmers wieder ...
    Um 21.00 Uhr wurden jeden Abend die Patienten für die Nacht fertiggemacht. Das hieß, sie wurden in ihre Zimmer gebracht und mit Schlafmedikamenten versorgt. Bis 22.00 Uhr waren dann alle Zimmertüren verschlossen.
Dane nahm das Verfahren erst unbewusst wahr, und er brauchte einige Zeit, um festzustellen, dass es seine Türe war, die sich immer als letzte schloss. Er wurde wieder nicht mit Schlafmitteln versorgt oder musste sich sonstigen Schlafritualen unterziehen. Und so ergab sich jeden Abend der gleiche Ablauf.
Doch an diesem Abend beglückte ihn eine nahezu himmlische Chance: Die Ärzte hatten vor einigen Tagen seine Sonde wieder einmal entfernt. Ein erneuter Versuch von Dr. Brickson, ihn mit Hunger aus der Reserve zu locken? Eine blödsinnige Idee, die Sonde dafür zu entfernen, wie Dane feststellen musste. Noch blödsinniger war die Erwartung, ihn jemals durch Aushungern in die Knie zwingen zu wollen.
Das Personal verschwand wie jeden Abend irgendwann in dem vorletzten Zimmer, und kein Patient war mehr zu sehen. Das ermöglichte ihm die erste Orientierung auf dem Flur und damit eine Gelegenheit, die nicht einmal das Personal abzuschätzen vermochte. Denn immer zur gleichen Zeit stand noch eine andere Tür offen, und die trug die Aufschrift: Leptika.
Damit endete seine Verzweiflung, und sein Fluchtplan begann sich zu gestalten.
Nun stand er im Türrahmen seines Zimmers – ohne Sonde, ohne Fesseln – und sah auf diese offene Tür. Aus dem Nebenraum drangen unfreundliche Stimmen. Joseph ließ sich wie immer schwer zu Bett bringen. Er mochte es nicht, wenn seine Gesangszeremonien unterbrochen wurden. Das gesamte Personal war gefordert, um ihn für die Nacht ruhigzustellen.
Dane hörte Joseph jammern. Es war das gleiche Jammern wie seines, wenn er nachts mit der Verzweiflung kämpfte. Es war seine Sprache, die Sprache aller Patienten hier. Doch seit dieser Nacht fand Dane keine Zeit mehr für seine Verzweiflung. Kein Jammern, kein Weinen suchte ihn mehr auf. Alles erlosch wie eine ausgebrannte Kerze, und mit dem Blick über den Flur entflammte eine neue Hoffnung in ihm.
Dane jagte einen letzten Blick über den Gang und lächelte, als er diese offene Tür sah. Sie war nur wenige Meter von seinem Zimmer entfernt auf der anderen Seite des Flurs. Er brauchte nicht viel Verstand, um zu wissen, dass in diesem Zimmer die Medikamente für die Patienten aufbewahrt wurden. Alles, was es jetzt kostete, war eine Minute der Angst. Doch die Angst gab ihn nicht frei. Seine Knie sackten weg, und er erkannte enttäuscht, noch nicht so weit zu sein. Sekunden später lag er wieder in seinem Bett – mit glühenden Wangen und rasendem Herzen. Zehn Minuten später war auch seine Tür geschlossen und er mit sich wieder allein. Zum ersten Mal seit langer Zeit genoss er wieder die Einsamkeit. Die brauchte er nun, um der neuen Situation gewachsen zu sein. Tausende von Zahnrädern setzten sich in Bewegung, und noch in derselben Nacht hielt ihn ein heißer Gedanke gefangen. Er ließ ihn die nächtliche Übung vergessen, seine Depressionen, seine Sehnsucht nach Sarah und auch am nächsten Tag das Gejaule auf dem Flur überhören. Alles drehte sich nur noch um diesen einen Gedanken, der genauso erschreckend wie erregend war. Zum ersten Mal empfand er sein morgendlich gespritztes Beruhigungsmittel als angenehm, denn nicht nur seine Gedanken überdrehten; sie kämpften über seinen Kopf hinaus und drängten in seinen Körper hinein. Das Medikament bescherte ihm dann die Ruhe, die er für seinen Plan brauchte. Man legte ihm keine neue Sonde, nur einen Tropf mit Glykose. Die befohlene Hungerkur von Dr. Brickson. Die Letzte.
    *
    Es war der 2. Dezember, als er das Vorhaben wagte. Was konnte ihm schon mehr passieren, als die erstaunten Gesichter des Personals zu sehen, dass Dr. Bricksons Versuch geklappt hätte, ihn aus der Resignation zu holen. Alle würden sich freuen. Doch ging sein Plan auf, so wäre er hier raus. So oder so. Tod oder lebendig.
Dane hörte Joseph wieder jammern, und die Pfleger redeten barsch auf
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