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Das blaue Haus (German Edition)

Das blaue Haus (German Edition)

Titel: Das blaue Haus (German Edition)
Autoren: Marion Schreiner
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Diskussionen verfingen und eine Art Wahl veranstalteten. Sie war heimlich – natürlich. Das ging keinen Pfleger etwas an. Die Wahl fand durch eine merkwürdige Verhaltensregel statt, die kein Pfleger und kein Arzt je durchschaute oder mitbekam. Sie bestand aus sprechenden Blicken und einfachem Kopfnicken.
Thomas war der Erste, der Danes geschlossene Tür passierte und zu nicken begann. Ihm folgte Nick, ein Stummer, dann Joseph, ein Wechsler. So zog sich die Wahl einen ganzen Tag hin – und an den Pflegern gänzlich vorbei. Eine unantastbare Sprache auf dieser Station – die einzige Sprache.
Abends zur Schlafenszeit um 21.00 Uhr war die Wahl beendet und Dane zum brutalsten Patienten der Station gewählt. Das hieß Abstand halten, keinen Kontakt. Das hieß, zunächst eine Außenseiterposition für Dane Gelton, die härteste Position überhaupt auf dieser Station.
Die Wahl nahm den Patienten vorerst ihre Angst und entkräftete ihre eigene Gewalt. Seit langer Zeit fühlten sich die Gruppen wieder miteinander verbunden. Die Tumulte auf dem Flur ließen merklich nach. Alles bestand nur noch aus einer unheimlichen Schleicherei und sprechenden Blicken, die die Pfleger und Ärzte der Station aber genauso verwirrten. Das wechselte nach einer Woche in eine aufwallende Unruhe und schließlich wieder in den normalen Tagesablauf.
Dass Danes Tür dann fast sieben Wochen verschlossen blieb, raubte ihnen wieder die Sicherheit, und sie fielen erneut in Aggressionen und Turbulenzen. Keiner vergaß die Wahl. Sie bestätigte nur, dass mit diesem Dane Gelton nicht zu spaßen war. Ihre Angst wuchs mit jedem Tag, der sie näher zu ihm brachte, näher zu dem Tag, an dem seine Tür einmal offenbleiben würde – oder noch schlimmer, an dem er sein Zimmer verlassen würde.
Keiner der Patienten hatte ein verschlossenes Zimmer oder war so lange ruhiggestellt gewesen. Wenn die Pfleger sein Zimmer betraten, versuchten sie heimlich hineinzusehen, mit einer Spannung, die kaum etwas auf der Station übertraf. Doch sie sahen nichts Aufregendes. Da lag ein dunkelhaariger Mann in seinem Bett und schlief. Nichts weiter. Er schlief. Dieser Gelton musste wirklich ein harter Bursche sein, dass man ihn so hart über Wochen betäubte.
    Mit dem Essen hatte es von Anfang an Probleme gegeben. Die Bemühungen seitens des Personals und von Sarah waren vergeblich. Das Essen wanderte nicht weiter als in seinen Mund. Er wollte einfach nichts zu sich nehmen und ertrug lieber die Sonde, als seinen Willen zu brechen. Er kämpfte danach mehrere Stunden mit den dazu verabreichten Beruhigungsmitteln, aber es war erträglich – anfangs.
Sarah hatte eine beachtenswerte Ausnahmeregelung erwirkt: Als einzige Besucherin durfte sie die Station betreten, da sie ihren Mann nicht anders als in seinem Zimmer sehen konnte. Dass es zu dieser Ausnahme kam, verdankte sie den revolutionären Ansichten von Dr. George Brickson, der als neuer Stationsarzt für neue Regeln auf dieser Station kämpfte. Seine Zugänglichkeit war es dann, die Sarahs Worte richtig verstand: die Liebe zu ihrem Mann und den Wunsch, ihn begleiten zu dürfen. Dr. Brickson hatte eine Mitkämpferin gefunden und fühlte sich bestärkt, wenigstens von dieser Seite Hilfe für Dane Gelton zu bekommen. Was es bringen würde, sollte sich zeigen.
Sarah wurde täglich durch einen Pfleger bis in Danes Zimmer begleitet. Das beruhigte sie, als sie am ersten Tag die anderen Patienten auf dieser Station sah. Es war eine unheimliche Atmosphäre und ein unheimlicher Geruch. Der Gedanke, dass Dane eines Tages unter diesen Menschen leben sollte, bestürzte sie. Er passte nicht zu ihnen, und doch war es die einzige Station für ihn.
Jedes Mal, wenn sie dann an seinem Bett saß, war sie dankbar, ihn hier liegen zu sehen, getrennt von diesen anderen Menschen auf dem Flur. Sicher, auch sie wollte gerne, dass er die Augen endlich öffnete ... und wiederum nicht. Denn solange er hier lag, war er nicht auf dem Flur. Und sie konnte ihn alleine besuchen, nicht in einem dieser anonymen Besucherzimmer. Alles war gut, so wie es war. Nur eines war nicht gut, das war ihr Schuldgefühl. Sie konnte es einfach nicht ablegen, die Schuld dafür, dass er jetzt hier lag. Kaum eine Nacht schlief sie durch, kämpfte mit den unerbittlichen Wenn‘s und Aber‘s.
    *
    Das hatte diesen Amoklauf ausgelöst? Dieses sinnlose Töten. Es war das Zusammenspiel von zu vielen Komponenten, die Dane nicht mehr verarbeiten konnte. Wie ein Hund, der um sich biss, wenn
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