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Das blaue Haus (German Edition)

Das blaue Haus (German Edition)

Titel: Das blaue Haus (German Edition)
Autoren: Marion Schreiner
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genommen hatte: Er spürte keine Fesseln mehr. Sein größtes Geschenk überhaupt in dieser Klinik. Und er wusste seit diesem Tag nicht einmal mehr, wie er es mit den Fesseln so lange ausgehalten hatte. Eine widerliche Handhabe. Jetzt war sie beseitigt; die Ruhe hatte sich also gelohnt.
Unter blinzelnder Beobachtung der Kamera begann er, seine Arme und Beine langsam zu bewegen und verbiss sich den Schmerz der steif gewordenen Gelenke. Er bewegte sich so lange, bis der Schmerz nachließ.
Die Signallampe an der Kamera brannte auch an diesem Tag nicht. Abends beherrschte Dane seine Arme und Beine wieder soweit, als hätten sie nie in Fesseln gelegen, und er begriff die Nachlässigkeit der Station diesbezüglich nicht. Die Bewegungsfreiheit öffnete ihm in dieser Nacht ein großes Tor zu neuem Optimismus und somit zu einem ersten Gehversuch in der Dunkelheit.
Es war mehr als deprimierend gewesen. Viele Wochen lang hatten die Beruhigungsmittel nicht nur seine Gelenke stillgelegt, auch die Muskeln versagten ihren Dienst. Der Kreislauf drohte schon beim ersten Versuch zusammenzubrechen, aber dann hatte Dane auch dieses in den Griff bekommen und fand sich plötzlich frei stehend vor seinem Bett wieder. Dann kam die Angst. Sie schenkte ihm einen heißen Schweißausbruch. Er sah auf die Kamera und die Tür. Beides wurden in diesem Moment zu unberechenbaren Feinden. Er verbiss sich die Panik so lange, bis sein Mut schließlich siegte.
Zwei Schritte schaffte er in das Zimmer hinein, dann verließ ihn auch sein Mut, und er suchte wieder die Nähe seines Bettes. Dann wieder zwei Schritte vor und wieder zurück. Er war erschöpft und ließ sich in sein Bett zurückfallen. Danach legte er sich so zurecht, als wäre er nie aufgestanden. Knapp eine Minute später kam der Stationsarzt herein, und Dane spürte einen unaufhaltsamen Adrenalinstoß in seinem Kopf. Der Arzt untersuchte ihn oberflächlich, wie er es die letzten Tage öfter tat, und fand nichts Beunruhigendes, außer den leicht erhöhten Herzschlag, den er auf die Medikamentengabe zurückführte. Dane ließ mühsam die Untersuchung über sich ergehen. Als er wieder allein war, musste er weinen.
Er wiederholte die Übung in den nächsten Tagen unter großer Panik, denn Dr. Brickson, der Stationsarzt, war mit seinen Besuchen plötzlich unberechenbar geworden. Hatte er doch den erhöhten Herzschlag als eine Veränderung seines Zustandes zur Kenntnis genommen? Gestern war er dreimal am Tag hereingekommen und hatte ihn untersucht, aber nichts weiter dazu gesagt. Waren sie ihm auf die Schliche gekommen?
Er wiederholte seine Übungen dennoch regelmäßig, wenn das kleine vergitterte Fenster knapp unterhalb der Decke ihm Tageslicht ins Zimmer ließ und er die Prozedur des Mittagessens über eine Sonde hinter sich gebracht hatte. Das war der Moment, in dem man ihn in der Regel für mehrere Stunden in Ruhe ließ. Die Muskeln schenkten ihm mit jedem Tag neue Kraft und Zuversicht. Die Kamera wurde schon lange nicht mehr eingeschaltet. Also hatten sie nichts bemerkt.
Wenn es dunkel wurde kam Sarah, und er lag in seinem Bett, unverändert, schweigend und mit geschlossenen Augen, wie immer. Sarah redete mit ihm, wie immer. Und sie las aus einem Buch vor, wie immer. Sie war bestürzt, dass er nicht dazu gewillt war, mit ihr Kontakt aufzunehmen, obwohl die Medikamente auf ein Minimum reduziert waren. Sie dachte an eine totale Resignation, genau wie Dr. Brickson. Das alleine war ihre Erklärung. Sie verstand ihn. Was hatte er jetzt noch von seinem Leben zu erwarten?
Er weinte in seinen Träumen, denn er hätte so gerne mit ihr geredet, doch das war nicht möglich. Der Preis war zu hoch. Es würde alles zerstören.
Nach einigen Wochen war Dane wieder so weit auf den Beinen, dass er kleine Spaziergänge in seinem Zimmer machen konnte. Die Kamera war nicht mehr in Betrieb gewesen, außer wenn Sarah bei ihm war. Die Zeiten, in denen er das Bett verließ, überschritten nicht mehr als fünf Minuten. Eine längere Zeit war ihm zu riskant. Es war vorgekommen, dass Dr. Brickson zweimal unmittelbar danach in sein Zimmer gekommen war, aber wieder nichts bemerkt hatte. Die Panik war gewichen und wurde nun durch Dankbarkeit ersetzt. Alle kannten ihn nur in seinem Bett, still, mit geschlossenen Augen, eben resignierend. Sie betraten das Zimmer mit dieser Erwartungshaltung und verließen es wieder. Nichts änderte sich ...
    ... bis zum 18. November, als das Personal zum ersten Mal seine Zimmertür zum
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