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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet
Autoren: Eliot Pattison
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an, verstummte dann aber mit offenem Mund, weil Jowa blitzartig losrannte und mit weiten Sprüngen auf die ferne Gestalt zueilte. Hinten auf der Ladefläche brach Lokesh in lautes Gelächter aus. Fat Mao rief Jowa hinterher, daß er ihm rechtzeitig vor Einbruch der Dämmerung einen der Lastwagen schicken würde.
    Am späten Nachmittag trafen sie bei einer kleinen Blockhütte ein, die in einem Pappelgehölz knapp hundert Meter abseits der Straße stand. Es herrschte überraschend viel Betrieb, und man hörte einige Kinder fröhlich lachen. Die Hälfte der Mitglieder des Roten Steins sei bereits weitergezogen und werde noch am selben Abend in dem früheren Raketensilo Unterschlupf finden, erläuterte Fat Mao. Marco und der Rest des Clans sollten ihnen am nächsten Tag dorthin folgen. Der Tibeter Jengzi sowie die sechs kasachischen zheli -Jungen waren mit Akzu und den anderen bei der Hütte geblieben. Im Augenblick hörten die Kinder aufmerksam Malik zu, der anscheinend eine Baseballpartie organisieren wollte.
    Fat Mao schaute zu Jengzi. »Ich kenne zwei dropkas dort im Silo«, sagte er zu Shan. »Sie haben einen Jungen namens Alta beerdigt.«
    Shan lächelte und mußte an die verzweifelten Worte des Nomaden denken, als dieser sie in ihrem Felsversteck entdeckt hatte. Er und seine Frau wollten mit ihrem Sohn doch nur in Frieden leben. Sie brauchten einen Sohn, und Jengzi brauchte Eltern.
    Shan ließ den Blick über die Lichtung neben der Hütte und die heiteren Menschen schweifen. Die stämmige Frau aus der Stadt war ebenfalls dort, kochte einen riesigen Kessel Eintopf und backte mit Unterstützung durch Akzus Frau stapelweise nan-Brote. Der Yakde Lama stand bei den Bäumen und starrte mit umwölktem Gesicht auf die andere Seite der Freifläche, wo ein Pfad zwischen den Pappeln verschwand.
    Leise machte Shan sich auf den Weg und gelangte vorbei an dem kleinen Bach, der neben der Hütte verlief, bis zu einem langgestreckten Felsvorsprung, von dem aus man weit in die Wüste hinausblicken konnte. Er wollte soeben weitergehen, als er die beiden Amerikaner eng umschlungen dort sitzen sah. Micahs Mutter weinte noch immer. Shan kehrte wortlos um.
    Bevor das Abendessen serviert wurde, hatten die beiden Köchinnen den anderen Anwesenden etwas mitzuteilen. Sie hätten beschlossen, daß die überlebenden zheli -Jungen den Roten Stein begleiten würden, ebenso wie die stämmige Frau, die den Maos geholfen hatte. Bei diesen Worten schaute sie zu Shan und nickte, als wolle sie sich abermals für ihr Verhalten in der Stadt entschuldigen. Er erwiderte ihr Lächeln. Die Chinesen hatten ihre beiden Söhne ermordet.
    Akzu trat ans Feuer. Seine Miene sah angespannt aus, als verspüre er großen Kummer. Shan vermutete, daß Jaklis Verhaftung der Grund dafür war. Aber der Clanälteste wirkte auch überrascht. Offenbar hatte seine Frau sich vorher nicht mit ihm beraten.
    Der wettergegerbte alte Kasache musterte die Kinder und schüttelte den Kopf. »Es ist zu gefährlich, mit uns zu kommen«, sagte Akzu, an seine Frau gewandt. »Und auch danach droht eine Zeit voller Entbehrungen. Ich habe genug Kinder begraben. Sie können auf die chinesische Schule gehen. Wenigstens werden sie überleben.«
    »Mit so vielen neuen Söhnen kann der Rote Stein wieder ein richtiger Clan werden«, entgegnete seine Frau kraftvoll und stolz.
    Akzu bedachte sie mit einem grimmigen Blick und schüttelte wieder den Kopf. »Weib!« sagte er und hielt dann inne, als zwei Gestalten vom Bach heraufkamen, eine Frau und ein Junge. Shan sah dem Kasachen an, daß Akzu genauso verwirrt war wie er selbst. Die beiden waren Fremde und wirkten doch irgendwie vertraut. Der Junge strahlte über das ganze Gesicht und führte die Frau an der Hand, bis sie Akzu fast erreicht hatten. Dann trat die Frau hinter das Kind und fing an, ihm zärtlich und mit der liebevollen Fürsorge einer Mutter den Kopf zu streicheln.
    Akzu stockte der Atem. Er blickte zu seiner Frau und wandte sich kurz ab, um sich die Tränen aus den Augen zu wischen. Dann erkannte auch Shan die zwei Neuankömmlinge. Es waren Batu, ein sauberer, glücklicher Batu in frischer, farbenfroher Kleidung, und die verrückte Frau, die mit Steinen nach Shan geworfen hatte. Aber sie war nicht mehr verrückt. Sie hatte sich die Haare gewaschen und zu ordentlichen Zöpfen geflochten, und an ihrer Kleidung klebte kein Schmutz. Vor allem aber war ihr Blick nicht länger verstört, sondern voller Hoffnung und Liebe für ihren neuen
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