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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet
Autoren: Eliot Pattison
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Der alte Lama schien Shans Blick zu spüren, denn er hob den Kopf und nickte freundlich. Dann klopfte er zwischen sich und Lokesh auf den Boden und bedeutete Shan, dort Platz zu nehmen. Als Shan das Lächeln des Wasserhüters erwiderte, fielen ihm die Worte wieder ein, die der Lama im Krankenhaus zuletzt an ihn gerichtet hatte. Es muß einen Spalt geben, sonst kann nichts eindringen. Letztendlich hatte Shan nicht mehr als das bewirken können. Er hatte geholfen, einen Spalt zu öffnen - erst bei Kaju und dann in der harten, spröden Schale von Anklägerin Xu.
    Lokesh beugte sich zu Shan und erklärte, daß Gendun den Wasserhüter nach Senge Drak begleiten würde, um dann von ihm in das versteckte gompa mitgenommen zu werden.
    Gendun lächelte fröhlich, als Shan ihn ansah. »In Rabennest gibt es einen alten Lehrmeister, der meinen Vater gekannt hat«, verkündete er und klang dabei überaus zufrieden.
    »Aber Rinpoche«, sagte Jowa. »Wer wird mit dem Jungen gehen? Der Yakde benötigt einen Lehrer, bis er bereit ist, hierher zurückzukehren.«
    Gendun legte dem Wasserhüter eine Hand auf die Schulter. »Das gompa hat schon zu lange auf seinen Abt verzichten müssen.«
    »Wir brauchen einen jüngeren und stärkeren Mann«, sagte der Abt von Rabennest mit seiner rauhen Stimme. »Einen Mann, der als Mönch ausgebildet ist, sich aber auch in der Außenwelt zurechtfindet.«
    »Die Amerikaner haben mit mir gesprochen, bevor sie schlafen gegangen sind«, sagte Jowa. »Sie wollen zunächst den eluosi begleiten und ihm beim Landkauf und dem Bau seines Blockhauses am Meer helfen. Der Junge wird mitkommen. Sie sagen, sie könnten von dort aus arbeiten, zumindest ein oder zwei Jahre lang. Es soll sich um eine sehr ruhige Gegend handeln, und sobald neue Proben aus der Wüste benötigt werden, könnte einer der Maos sie dort durchaus besuchen.«
    »Es ist bestimmt nicht einfach, aus einem gompa in die Welt hinauszuziehen, aber der umgekehrte Weg wird sich womöglich als noch schwieriger erweisen«, stellte Gendun rätselhaft fest.
    Lokesh stieß ein leises Lachen aus, und Jowa sah ihn verwirrt an.
    »Morgens ist der Junge immer ziemlich unkonzentriert, bis er etwas zu essen bekommt«, sagte der Wasserhüter und seufzte zufrieden. »Nur eine Schale Brei, dann widmet er sich seinen Sutras.« Jowa ließ den Blick über die Lichtung schweifen, als rechne er damit, jeden Moment einen weiteren Mönch eintreffen zu sehen. »Aber wenn er fleißig ist, sollte man mit ihm zur Belohnung Schmetterlinge beobachten. Einmal sind wir drei Stunden lang einem Schmetterling hinterhergelaufen. Ein junger Mensch, der kräftigere Beine hat als ich, könnte bestimmt sechs Stunden durchhalten.«
    Lokesh lachte schon wieder. Jowa sah erst ihn, dann Shan an.
    Der Wasserhüter berührte Jowas Bein. »Er haßt es, seine Socken zu waschen«, sagte der alte Abt. »Sorg dafür, daß er regelmäßig seine Socken wäscht.«
    Jowa erstarrte und musterte die Hand des Wasserhüters. »Rinpoche«, flüsterte er. »Ich bin kein.« Er schaffte es nicht, den Satz zu beenden, sondern starrte nur auf die Finger des Lama.
    Der Wasserhüter beugte sich vor und nahm Jowas Hände, die auf den Oberschenkeln des purba lagen. »Ich habe gehört, dieses Alaska soll eine feuchte Gegend sein.« Er schüttelte die Hände fest, als wolle er sicherstellen, daß Jowa sich seine Anweisungen einprägte. »Achte darauf, daß er es trocken hat.«
    Der alte Lama und Jowa sahen einander lange in die Augen. »Wenn er soweit ist, mußt du ihn zu uns zurückbringen«, sagte der Abt von Rabennest schließlich. »Es wird für ihn im neuen Tibet viel zu tun geben.« Er drückte erneut Jowas Hände. »Wir werden beim Orakelsee nach Anzeichen Ausschau halten.«
    Jowa sah Shan an, und der Mund des Tibeters verzog sich langsam zu einem Lächeln. Shan erinnerte sich an eine Nacht, die lange zurückzuliegen schien. Sie hatten beide unter dem Mond im Kunlun gestanden, und Jowa hatte verzweifelt davon gesprochen, daß die Lamas letztlich verschwinden würden, daß dann alles keinen Sinn mehr hätte und daß er selbst nie ein Lama werden könnte, weil die Chinesen ihn auf einen anderen Weg geführt hätten. Aber es würde eine neue Generation Lamas geben, zwar von etwas anderer Prägung, aber gleichwohl Lamas, und Jowa würde dabei helfen, sie großzuziehen.
    Der Yakde war aufgewacht und zum Feuer gekommen. Fat Mao nickte Gendun zu.
    »Wir gehen jetzt«, sagte Gendun zu Shan, und die Tibeter standen auf.
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