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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet
Autoren: Eliot Pattison
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Der Wasserhüter und Khitai umarmten sich, und dann winkte der Abt Jowa heran und umarmte den neuen Lehrer des Yakde ebenfalls.
    Die Lamas folgten Fat Mao den Pfad entlang, und Shan begleitete sie noch ein Stück. Es gab nichts mehr zu sagen. Fat Mao trat mit ernster Miene an Shans Seite, drückte ihm linkisch etwas in die Hand und ging eilig weg. Erst Gendun und dann der Wasserhüter stellten sich fröhlich lächelnd vor ihn hin und legten ihm jeder die Hand auf das Herz. Shan nickte dankbar und schaute ihnen hinterher, bis sie außer Sicht verschwanden. Erst dann sah er in seine Hand. Fat Mao hatte ihm einen kleinen, bunt leuchtenden und frisch mit Wasser gesäuberten Stein gegeben.
    Eine Stunde später standen die verbleibenden Gefährten an der Straße und warteten auf den Lastwagen, der Lokesh nach Tibet bringen würde. Lokesh lachte die ganze Zeit und hielt seine Tasche fest an die Brust gepreßt. Mehr als alle anderen wußte er genau, wohin er gehen und was er tun würde. Er würde zum Berg Kailas reisen und dort eine vor tausend Jahren begonnene Pilgerfahrt beenden, um eine tote Mutter und ihre verstorbene Tochter zu ehren. »Es wird ziemlich kalt sein«, sagte Shan unbeholfen, und Lokesh lächelte. »Ich habe gehört, es soll auch riskante Stellen geben, wo du das Gleichgewicht verlieren könntest«, warnte Shan. Lokesh lächelte einfach weiter sein schiefes Lächeln, umarmte Shan und trat dann hinaus auf die Straße, weil die Maos ihn riefen.
    Sophie graste am Straßenrand, und Marco lag neben ihr in der Sonne. Als Shan sich setzte, nahm der eluosi ihn abschätzend in Augenschein. »In Alaska kaufe ich Ihnen einen Mantel. Einen dieser dicken Pelzmäntel, damit Sie mir nicht erfrieren, wenn der russische Winter herüberzieht. Und eine Pelzmütze. Eine Uschanka. Sie werden wie ein kleiner Bär aussehen. Johnny Bär.« Er lächelte, zum erstenmal seit jener schrecklichen Nacht auf dem Turm, und ein neuer Gedanke schien in seinem Blick zu funkeln. »Wir bauen uns eine Sauna für den Winter. Ziehen uns die Klamotten aus und lassen uns höllisch einheizen. Und dann rennen wir hinaus und wälzen uns im Schnee. Splitternackt.« Marco kicherte und hielt mit überraschtem Gesichtsausdruck inne, als hätte er nicht damit gerechnet, je wieder fröhlich sein zu können. Dann brach er plötzlich in schallendes Gelächter aus, und auch Shan lachte und wunderte sich darüber, denn er hatte schon seit Jahren nicht mehr so gelacht. Schließlich wurde ihm der Grund dafür klar. Marco war für ihn weder ein Lehrmeister noch ein Häftling, weder ein Schüler noch ein Krieger. Marco war einfach nur ein Freund.
    Jowa, Deacon und der junge Lama spielten mit einem Ball. Die Augen des purba strahlten, wie Shan es noch nie zuvor an ihm beobachtet hatte. Sophie knabberte an Marcos Ohr, und der eluosi sprach ein weiteres Mal von dem Blockhaus, das er bauen würde. Ein Schmetterling flog vorbei, und Shan bemerkte, daß Jowa den jungen Lama mit ausgestrecktem Arm darauf hinwies.
    Dann drang der Lärm eines sich angestrengt mühenden Motors an Shans Ohren, und kurz darauf kam ein klappriges Gefährt in Sicht, ein uralter Lastwagen. Auf der von einer dreckigen, zerrissenen Plane überdeckten Ladefläche stapelten sich zahlreiche Lattenkisten voller Hühner. Lokesh lachte, als die Maos ihm in eine Lücke zwischen den Kisten hinaufhalfen.
    Shan konnte den Blick nicht von dem alten Mann abwenden, der allein in den unwirtlichen Himalaja reisen wollte. Ihm wurde auf einmal bewußt, daß er aufgestanden war und daß seine Hände zitterten. Er klappte den Mund auf und zu, aber es drang kein Wort über seine Lippen. Neben sich hörte er Marco tief seufzen, und dann machte der eluosi sich an Sophies Sattel zu schaffen, an dem ihr Gepäck hing.
    »Andererseits kann es in Alaska auch wochenlang regnen«, polterte Marco theatralisch. »Das schlägt aufs Gemüt, wenn man es gewohnt ist, den Himmel zu betrachten.« Etwas landete vor Shans Füßen. Seine Tasche.
    Lokesh machte es sich auf dem Laster bequem. Die Hühner gackerten verstört und flatterten in ihren Kisten umher. Die Maos winkten dem alten Tibeter herzlich lächelnd zu. Dann erwachte der Motor stotternd und mit einer Qualmwolke wieder zum Leben, und der Wagen setzte sich ächzend in Bewegung, um den Aufstieg fortzusetzen.
    Shan sah dem eluosi in die Augen. »Das sind ganz schön viele Hühner für nur einen einzigen Mann«, sagte Marco feierlich. Er nahm Shans Hand, drückte sie fest und
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