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Das Anastasia-Syndrom

Titel: Das Anastasia-Syndrom
Autoren: Mary Higgins Clark
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ausgenutzt war und trotzdem die anheimelnde Atmosphäre einer Privatbibliothek gewahrt blieb. Der rückwärtige Teil war als Wohnzimmer eingerichtet, mit einem alten Ledersofa, einem riesigen samtbezogenen Sessel und Beistelltischchen mit Lese-lampen. An einem schweren Eichenschreibtisch arbeitete eine Frau – beim Anblick ihres Profils meinte Judith in den Spiegel zu schauen. Ihr Herz begann zu jagen, und sie spürte, wie ihre Hände klamm wurden. Polly! Das mußte Polly sein.
    »Suchen Sie ein bestimmtes Buch?« Das war die junge Frau von der Kasse.
    Judith schluckte. Sie hatte einen Kloß im Hals. »Ich stöbere nur ein bißchen herum, aber ich finde bestimmt etwas Passendes. Ein zauberhafter Laden.«
    »Dann sind Sie bestimmt zum erstenmal hier?« Sie lächelte.

    »Parrish Pages ist berühmt. Die Kunden kommen von weit her.
    Haben Sie schon mal von Miss Parrish gehört?«
    Judith schüttelte den Kopf.
    »Sie ist sehr bekannt als Vortragskünstlerin. Sie erzählt Märchen und Geschichten, überall reißt man sich um sie, aber sie hat lieber ihre eigene Sendung hier im Funk, jeden Sonntag und in der Woche zwei Stunden für Kinder. Das ist viel einfacher als dauernd herumzureisen. Sie sitzt drüben am Schreibtisch. Möchten Sie sie kennenlernen?«
    »Ach, ich weiß nicht recht. Ich möchte sie nicht stören.«
    »Das ist doch keine Störung, im Gegenteil. Miß Parrish freut sich, wenn sie neue Gäste begrüßen kann.«
    Im Handumdrehen hatte sie Judith nach hinten gebracht. Sie stand jetzt vor dem Schreibtisch. Polly blickte auf, Judith schlug das Herz bis zum Hals.
    Polly war ein paar Pfund gewichtiger als sie. Das dunkelbrau-ne Haar war stark silbergrau meliert. Ihr Gesicht, ohne jedes Make-up, strahlte viel Kraft und Wärme aus, es wirkte ungemein natürlich und doch zugleich attraktiv.
    »Wir haben hier eine Erstbesucherin, Miss Parrish«, verkündete die Angestellte.
    Polly Parrish lächelte und streckte Judith die Hand hin. »Wie reizend von Ihnen, mal bei uns hereinzuschauen.«
    Judith reichte ihr die Hand und realisierte, daß sie körperli-chen Kontakt mit ihrer Zwillingsschwester aufnahm. »Ich bin…
    ich bin Judith Kurner.« Instinktiv benutzte sie ihren Ehenamen.
    Polly, dachte sie, Polly. Sekundenlang lag es ihr auf der Zunge zu sagen: »Ich bin’s, Sarah«, aber sie wußte, daß sie damit noch warten mußte. Polly war eine bekannte Vortragskünstlerin. Sie hatte ihre eigene Sendung und diese bezaubernde Buchhandlung. Ach, Stephen, dachte sie, diese Verwandte brauchen wir nicht zu verstecken!

    Inspector Lynch beobachtete die Szene aus einer Ecke. Er spitzte die Lippen, als wolle er pfeifen. Bis auf das Haar sah die Frau haargenau wie Judith Chase aus. Gefärbt oder mit einer dunklen Perücke wäre Polly Parrish ein Spiegelbild von Judith Chase. Wäre es nicht ein Geschenk des Himmels, wenn sie Polly Parrish bei einer Überprüfung mit einer terroristischen Verei-nigung in Verbindung bringen könnten? Ihm war sofort klar, daß Judith sich nicht zu erkennen geben würde. Sie will sie sich gründlich anschauen, dachte er. Deshalb das Kopftuch und die dunkle Brille. Wie gut, daß sie so vernünftig ist.
    Lynch wußte, daß er Judith Chase unbedingt von jedem Verdacht, die Frau mit dem Cape zu sein, reinwaschen wollte.
    Nachdem er ihre Bücher und das von Scotland Yard über sie zusammengetragene Dossier gelesen hatte, empfand er Sympathie und Bewunderung für sie. Er mußte sich selbst ermahnen, streng objektiv zu bleiben. Dann runzelte er die Stirn.
    Im gleichen Augenblick, in dem Judith es sah, erfaßte er, daß Polly Parrish in einem Rollstuhl saß.

    Judith kam kurz vor 18 Uhr nach Hause zurück. Nach dem Besuch bei Polly hatte sie in einem kleinen Lokal um die Ecke Tee getrunken. Die irische Kellnerin war mit einem Redeschwall auf ihre geschickten, scheinbar beiläufigen Fragen eingegangen.
    Polly Parrish war hier in Beverley aufgewachsen. Eine reizende Familie nahm sie zu sich, als sie endlich aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Bei dem Raketenangriff, in dem ihre Mutter und Schwester getötet wurden, hat sie sich die Wirbelsäule gebrochen. Sie lebte allein, in einem allerliebsten Häuschen, nur ein paar Kilometer entfernt. Mehrere Zeitschriften und Zeitungen haben sie lobend erwähnt. Und wenn sie eine Geschichte erzählt, dann sitzen die Leute, vom Baby bis zum Tattergreis, mucksmäuschenstill da und verschlingen jedes Wort von ihr.
    »Ich sag Ihnen, Miß, das ist die reine
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