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Das Anastasia-Syndrom

Titel: Das Anastasia-Syndrom
Autoren: Mary Higgins Clark
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sich das nur ein, daß sie sich jetzt deutlich an den Augenblick erinnerte, in dem die Bomben fielen? Ihre Hand, die nach der ihrer Mutter suchte, Pollys Schreien, die Dunkelheit, das hastige Fußgetrappel und sie hinterher, schluchzend bei dem Gedanken, ihre Mutter habe sie im Stich gelassen. Als sie den Zug bestieg, konnte sie nachempfinden, wie hoch das Trittbrett für eine Zweijährige gewesen sein mußte. An ihrem Fensterplatz erinnerte sie sich – oder meinte, sich zu erinnern –, wie der Zug geruckelt hatte, als er Waterloo Station verließ. Sie konnte den Sack förmlich spüren, auf dem sie gelegen hatte, steif und fest.
    Postsäcke, dachte sie, bis oben hin vollgestopft, mit einer Kordel verschnürt. Sie war so in diese Erinnerungen vertieft, daß sie den Vierziger mit dem hageren Gesicht, der einen Platz hinter ihr auf der anderen Gangseite saß, weder bemerkte noch auf die Idee kam, daß Inspector David Lynch, hinter der Morgenzeitung verschanzt, sie nicht aus den Augen ließ.

    In Scotland Yard hatte es ebenfalls einen Durchbruch gegeben.
    Bei seinem Besuch im Altenpflegeheim hatte Commander Sloane diesmal bei Mrs. Bloxham ein völlig klares Erinnerungsver-mögen vorgefunden. Ihre Stimme zitterte vor Bewegung, als sie ihm von den bildhübschen Zwillingsschwestern erzählte, die mit ihrer verwitweten Mutter nebenan gewohnt hatten; von dem Raketenangriff, bei dem Elaine Parrish umkam, als sie ihre kleinen Töchter aufs Land bringen wollte; von der kleinen Sarah, deren Leiche man nie gefunden hatte; von Polly, die in Beverley in Yorkshire eine eigene Buchhandlung hatte. Im Büro wurde dann seine Begeisterung über diese Informationen durch die Nachricht gedämpft, daß Judith nach Yorkshire unterwegs war und von Inspector Lynch beschattet wurde. »Ich wünschte, wir hätten Gelegenheit, Nachforschungen über Polly Parrish anzustellen, bevor Miss Chase sich zu erkennen gibt, sofern sie das vorhat«, machte er bei Commander Barnes seinem Herzen Luft.
    Es gab noch einen Lichtblick, wenn man es denn so nennen konnte, erfuhr Sloane. Die Besucherbefragung hatte Resultate gebracht. Ein Mann, der um 20 Uhr 20 gegangen war, hatte einer Frau im dunkelgrünen Cape die Tür aufgehalten, die an ihm vorbeifegte, ohne auch nur zu nicken. Er erinnerte sich, an ihrer Hand eine auffallend rote Narbe bemerkt zu haben. Ein paar Schritte hinter ihr konnte sich ein stämmiger Mann gerade noch durch die Tür quetschen. »Da haben wir also wieder die Lady mit der Narbe und dem Cape«, sagte Barnes. »Morgen bringen wir Judith Chase her zur Befragung.«
    »Mit welcher Begründung?« erkundigte sich Sloane.
    »Wir erzählen ihr, daß die Person, nach der wir fahnden, offenbar starke Ähnlichkeit mit ihr hat, und daß wir wissen möchten, ob sie leibliche Verwandte ausfindig gemacht hat. Außerdem werden wir sie fragen, ob sie eine Frau namens Margaret Carew kennt.«
    »Und wenn ja?«
    »Morgen sind die Wahlen. Wir warnen Sir Stephen, sich von ihr fernzuhalten. Sollte natürlich eine Zeitung von der Beziehung der beiden Wind bekommen haben, und die Sache aus-schlachten, müßte er trotzdem den Parteivorsitz niederlegen, und das heißt, jemand anderer wird Premierminister.«
    »Verdammt schade, für ihn und für das Land!« platzte Sloane heraus.
    »Viel schlimmer, wenn die Dame im Cape, wer immer sie sein mag, weiter ihr Unwesen treibt und mit ihm in Verbindung gebracht wird.«

    Die Reise dauerte drei Stunden. Judith stieg in Hull um. Von dort war es nur noch eine kurze Fahrt bis Beverley. Als sie über den Marktplatz ging, nahm sie die herrlichen Sakralbauten kaum wahr. Ein Polizist wies ihr den Weg zur Queen Mary Lane, eine schmale Nebenstraße, in der sich die Buchhandlung Parrish befand. Es wehte ein leichter, aber scharfer Wind. Sie zog das Kopftuch ins Gesicht und stellte den Mantelkragen hoch. Sie trug bereits die überdimensionale dunkle Brille. Sie kam an einer Apotheke, einer Obst- und Gemüsehandlung, einem Blu-mengeschäft vorbei. Dann sah sie das Schild. Parrish Pages. Sie war bei der Buchhandlung angelangt.
    Judith öffnete die Tür und hörte das leise Klingeln der Laden-glocke. Eine junge Frau mit freundlichem Gesicht und riesiger runder Brille stand hinter der Kasse. Sie blickte auf, lächelte, bediente dann weiter.
    Dankbar registrierte Judith, daß mindestens ein halbes Dutzend Leute in den Regalen herumstöberte. Das gab ihr Zeit, sich umzusehen.
    Ein langer, ziemlich schmaler Raum, in dem jeder Zentimeter
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