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Das alte Königreich 02 - Lirael

Titel: Das alte Königreich 02 - Lirael
Autoren: Garth Nix
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öffnete und auf Zehenspitzen über den Korridor zu den Bädern trippelte. Charterzeichen wurden heller, wenn Lirael darunter herging, und machten das Zwielicht zum Tag. Doch alle anderen Türen in der Halle der Kinder waren geschlossen. Früher hätte Lirael angeklopft und die anderen lachend zu einem frühen Bad gerufen.
    Doch das war schon Jahre her. Ehe alle anderen die Sicht erhalten hatten.
    Es war noch zu jener Zeit gewesen, als Merell die Hausmutter der Kinder gewesen war und ihre Schützlinge mit sanfter Hand geführt hatte. Vor einiger Zeit hatte jedoch Liraels Tante Kirrith die stets nachsichtige Merell abgelöst. Hörte Kirrith irgendetwas – und ihr entging kaum etwas –, stürmte sie in ihrem braun-weiß gestreiften Bademantel aus ihrem Zimmer, befahl Ruhe und verlangte Respekt vor den noch schlafenden Älteren. Nicht einmal für Lirael machte Kirrith eine Ausnahme. Und sie war das genaue Gegenteil von Liraels Mutter Arielle. Für Kirrith gab es nur Regeln und Bestimmungen, Tradition und Gehorsam.
    Kirrith würde nie den Gletscher verlassen, um zu reisen und nach sieben Monaten Schwangerschaft zurückzukehren. Lirael blickte finster auf Kirriths Tür. Nicht, dass Kirrith ihr das je erzählt hätte. Ihre Tante sprach nicht über ihre jüngere Schwester. Alles, was Lirael über ihre Mutter wusste, hatte sie aus den Gesprächen ihrer Cousinen erfahren, die sie heimlich belauscht hatte, wenn sie darüber redeten, was mit einem Mädchen zu tun sei, das offensichtlich nicht zu ihnen gehörte.
    Bei diesem Gedanken setzte Lirael eine finstere Miene auf, die auch nicht schwand, als sie im heißen Bad ihr Gesicht mit Bimsstein abrieb. Erst der Schock, als sie in das kalte Wasser des Beckens sprang, glättete ihre Stirn wieder.
    Doch ihre Miene verdüsterte sich erneut, als sie in den großen Spiegel des Umkleideraums neben dem kalten Becken blickte, um ihr Haar zu kämmen. Der Spiegel war ein Rechteck aus Silberstahl, acht Fuß hoch und zwölf breit, an den Kanten schon etwas abgegriffen und stumpf. Später an diesem Morgen würden bis zu acht der vierzehn Kinder, die derzeit in dieser Halle wohnten, ihn miteinander teilen.
    Lirael mochte es gar nicht, wenn sich andere mit ihr vor dem Spiegel kämmten oder sich betrachteten, denn das machte einen weiteren Unterschied offensichtlich: Die meisten Clayr hatten leuchtend blondes Haar, helle Augen und bräunliche Haut, die sich auf den Gletscherhängen rasch zu einem tiefen Kastanienbraun färbte. Gegen sie wirkte Lirael wie bleiches Unkraut zwischen gesunden Blumen. Ihre weiße Haut brannte rot, statt sich braun zu färben, und sie hatte dunkle Augen und noch dunkleres Haar.
    Wahrscheinlich geriet sie nach ihrem Vater, wer immer er gewesen sein mochte. Arielle hatte es nie gesagt – eine weitere Schmach, die Lirael auf sich nehmen musste. Die Clayr gebaren oft Kinder, die von Besuchern gezeugt worden waren, aber sie verließen gewöhnlich den Gletscher nicht, um zu empfangen, und machten auch kein Geheimnis aus den Vätern. Und aus irgendeinem Grund bekamen sie fast immer Töchter. Blonde, nussbraune Mädchen mit blassblauen oder hellgrünen Augen.
    Lirael war anders, sie passte nicht zu ihnen.
    Doch wenn sie allein vor dem Spiegel stand, konnte sie das alles vergessen. Sie konzentrierte sich darauf, ihr Haar zu bürsten, neunundvierzig Mal auf jeder Seite, und wurde allmählich froher gelaunt. Vielleicht war heute ihr großer Tag. Ein vierzehnter Geburtstag, an dem sie das größte und schönste aller Geschenke bekam: die Gabe der Sicht.
    Trotzdem hatte Lirael nicht das Verlangen, im Mittleren Refektorium zu frühstücken. Die meisten Clayr aßen in dem riesigen Speisesaal; sie würde zwischen den um einige Jahre jüngeren Mädchen sitzen müssen und wie eine Distel in einem Blumenbeet aussehen. Eine blaue Distel, denn alle anderen in ihrem Alter würden weiß gewandet an den Tischen der reifgekrönten und anerkannten Clayr sitzen.
    Lirael ging über zwei stille Flure und stieg zwei Wendeltreppen hinunter zum Unteren Refektorium. Das war der Speisesaal, wo die Händler aßen sowie die Bittsteller, die zu den Clayr kamen, damit diese ihnen die Zukunft weissagten. Doch jetzt würden sich dort nur jene Clayr aufhalten, die am heutigen Tag für die Küche und die Bedienung eingeteilt waren. Lirael hoffte, dass bald auch die Stimme der Neuntagewache dazukam. Als sie die letzten Stufen hinunterstieg, malte sie sich die Szene aus: Die Stimme schritt die Haupttreppe
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