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Das alte Königreich 02 - Lirael

Titel: Das alte Königreich 02 - Lirael
Autoren: Garth Nix
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stellte er sich vergnügt vor. »Seid Ihr zum ersten Mal hier?«
    »Wo?«, fragte Lirael verwirrt und schüchtern. »Im Refektorium?«
    »Nein«, entgegnete Barra lachend und beschrieb mit den Armen einen weiten Kreis. »Hier, im Gletscher der Clayr. Ich bin zum zweiten Mal hier. Wenn Ihr jemanden braucht, der Euch die Sehenswürdigkeiten zeigt… aber wahrscheinlich bringen Eure Eltern oft Waren her, nicht wahr?«
    Wieder wandte Lirael das Gesicht ab, denn sie spürte, wie ihre Wangen glühten. Sie versuchte etwas zu sagen, etwas Abweisendes vielleicht, brachte jedoch kein Wort heraus, weil ihr nur ein einziger Gedanke durch den Kopf ging: Sogar Außenstehende erkannten, dass sie keine richtige Clayr war. Selbst ein halbwüchsiger Jüngling wie der hier wusste offenbar auf Anhieb Bescheid.
    »Wie heißt Ihr?«, erkundigte sich Barra, ohne Liraels Verlegenheit und die schreckliche Leere zu spüren, die sich in ihr breit machte.
    Lirael schluckte und benetzte die Lippen, gab jedoch keine Antwort. Ihr war, als hätte sie keinen Namen, den sie ihm nennen könnte, ja, als wäre sie ohne jede Identität, wie ein toter Gegenstand. Nicht einmal ansehen konnte sie Barra, weil ihre Augen plötzlich voller Tränen waren. So starrte sie nur stumm auf die halb gegessene Birne auf ihrem Teller.
    »Ich wollte nicht stören…«, murmelte Barra, dem das Schweigen merklich zu schaffen machte.
    Lirael nickte. Zwei Tränen fielen auf den Teller. Sie blickte nicht auf und versuchte auch nicht, ihre Augen zu trocknen. Ihre Arme fühlten sich so schlaff und nutzlos an wie ihre Stimme.
    »Es tut mir Leid«, sagte Barra, als er rasselnd aufstand. Lirael sah ihm nach, als er zu seinem Tisch zurückkehrte. Ihre Augen waren unter ihrem herabhängenden Haar jetzt fast verborgen. Einer der Männer sagte etwas zu Barra, doch nicht laut genug, dass Lirael es verstanden hätte. Barra zuckte die Schultern, und die Männer sowie einige der Frauen lachten schallend.
    »Es ist mein Geburtstag«, flüsterte Lirael ihrem Teller zu und ließ den Tränen freien Lauf, bis sie sich schließlich selbst ermahnte: »Schluss jetzt! Du darfst an deinem Geburtstag nicht weinen.« Sie stand auf, stieg unbeholfen über die Bank und ging mit ihrem Teller und der Gabel zur Küchendurchreiche. Sie achtete darauf, keiner ihrer Cousinen ersten, zweiten oder dritten Grades aufzufallen, die heute hier arbeiteten.
    Sie hielt den Teller noch in der Hand, als eine der Clayr die Haupttreppe herunterkam und mit der Metallspitze ihres Stabes auf den ersten der sieben Gongs schlug, die auf den unteren sieben Stufen standen. Lirael erstarrte, und im Refektorium erstarben die Gespräche, als die Clayr einen Gong nach dem anderen schlug. Die verschiedenen Noten vermischten sich zu einem melodiösen Klang, ehe sie verstummten.
    Auf der untersten Stufe blieb die Clayr stehen und hob ihren Stab. Liraels Herz pochte heftig, während ihr Magen sich vor Aufregung verkrampfte. Es war genau so, wie sie es sich ausgemalt hatte – so überzeugend, dass es nicht nur Wunschdenken gewesen sein konnte, sondern der Beginn der Sicht.
    Sohrae war derzeit, wie ihr Stab verriet, die Stimme der Neuntagewache – jene Stimme, die Bescheid gab, wenn die Wache etwas für die Clayr oder das Königreich Wichtiges Gesehen hatte. Die Stimme verkündete überdies, wenn die Wache jenes Mädchen Gesehen hatte, das als Nächstes die Sicht erhielt.
    »Hört, hört«, rief Sohrae. Ihre klare Stimme war überall im Refektorium und in den Küchenräumen deutlich zu verstehen. »Die Neuntagewache verkündet voll Freude, dass die Gabe des Sehens in unserer Schwester erwacht ist, die da heißt…«
    Sohrae holte Atem, um weiterzusprechen, und Lirael schloss die Augen. Sie wusste, dass Sohrae gleich ihren Namen nennen würde. Es
muss
mein Name sein, dachte sie. Ich bin zwei Jahre später an der Reihe als alle anderen. Außerdem ist heute mein Geburtstag…
    »Annisele!«, rief Sohrae, drehte sich um, stieg die Stufen wieder hinauf und schlug leicht auf die Gongs, deren Klang die wieder aufgenommenen Gespräche der Besucher untermalte.
    Lirael öffnete die Augen. Die Welt hatte sich nicht verändert. Die Sicht war ihr nicht zuteil geworden. Alles würde weitergehen wie bisher. Trist und trostlos.
    »Dürfte ich bitte Euren Teller haben?«, fragte die Cousine hinter der Küchendurchreiche. »Oh, Lirael, ich dachte, du wärst ein Besucher. Beeil dich, nach oben zu kommen, Liebes. Anniseles Erwachen wird in einer Stunde
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