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Das alte Königreich 02 - Lirael

Titel: Das alte Königreich 02 - Lirael
Autoren: Garth Nix
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gegenüberstand, fühlte sie sich ganz klein – irgendwie schmutzig, verglichen mit dem strahlenden Weiß von Kirriths Gewand. Sie starrte darauf und musste wieder an Eis, Schnee und Gletscher denken.
    Sie war noch immer in Gedanken versunken, als Kirrith ihr mit dem Finger auf die Schulter tippte.
    »Was ist?«, fragte Lirael. Ihr wurde bewusst, dass sie kaum noch etwas von Kirriths Worten verstanden hatte.
    »Zieh dich an!«, wiederholte ihre Tante und runzelte die Stirn, wodurch ihr Reif ein Stück herunterrutschte und ihre Augen beschattete. »Es wäre sehr unhöflich, zu spät zu kommen.« Wortlos schlüpfte Lirael aus ihrem alten Kittel und bemühte sich, den neuen überzustreifen. Er war aus schwerem Linnen und sehr steif, weil er noch ungetragen war. Es gelang ihr erst, als Tante Kirrith ihr half. Nachdem sie es endlich geschafft hatte, die Arme hindurchzustecken, bemerkte sie entsetzt, dass der Kittel bis zu den Knöcheln reichte.
    »Da ist noch viel Platz zum Hineinwachsen«, stellte Tante Kirrith zufrieden fest. »Jetzt müssen wir uns aber wirklich beeilen.«
    Lirael blickte hinunter auf die Fülle blauen Stoffes, die ihren ganzen Körper bekleidete, und hatte den Eindruck, dass da mehr Platz war, als sie je würde ausfüllen können. Offenbar rechnete Tante Kirrith damit, dass Lirael nie das Weiß des Erwachens tragen würde, denn dieser Kittel würde Lirael auch dann noch passen, wenn sie bis zu ihrem fünfunddreißigsten Lebensjahr weiterwuchs.
    »Geh du schon voraus, ich komme sofort nach«, log sie und dachte an die Sternenberg-Treppe, die Klippen und das Eis. »Ich muss noch zur Toilette.«
    »Ist gut«, rief Kirrith und eilte auf den Flur. »Aber trödle nicht herum, Lirael! Denk daran, was deine Mutter sagen würde!«
    Lirael ging aus dem Zimmer und nach links zur nächsten Toilette, während Kirrith nach rechts eilte und in die Hände klatschte, um drei achtjährige Mädchen anzutreiben, die sich kichernd ihre blauen Kittel überstreiften.
    Lirael hatte keine Ahnung, was ihre Mutter Arielle gesagt hätte. Als kleines Mädchen – ehe sie sich zu der Außenseiterin entwickelte, die sie heute war – hatte man sich oft über ihre Mutter lustig gemacht. Es war ganz normal für die Clayr, sich einen Besucher des Gletschers als Liebhaber zu nehmen, und es war auch nicht ungewöhnlich, einen Liebhaber von außerhalb der Gletscherregion zu finden. Doch Arielle war die erste Clayr gewesen, die sich geweigert hatte, den Namen des Kindsvaters zu nennen, so dass dieser ein Geheimnis blieb. Außerdem hatte Arielle den Gletscher und ihr damals fünf Jahre altes Töchterchen verlassen, weil eine Vision sie gerufen hatte, die sie nicht mit den anderen Clayr teilte.
    Jahre später hatte Tante Kirrith Lirael lediglich erzählt, dass ihre Mutter tot sei, ohne irgendwelche Einzelheiten zu nennen. Lirael hatte später verschiedene Geschichten gehört, darunter auch die, dass Arielle am Hof eines barbarischen Herrschers in der eisigen Ödnis des Nordens von einer eifersüchtigen Rivalin vergiftet worden sei oder dass irgendein Ungeheuer sie zerfleischt habe. Anscheinend hatte Arielle sich in der Fremde als Seherin betätigt, was sich für eine Clayr nicht geziemte.
    Den Schmerz über den Verlust ihrer Mutter hatte Lirael tief im Herzen verschlossen, wo er seither schlummerte – jedoch nicht tief genug, als dass er nicht geweckt werden konnte. Und Tante Kirrith war leider sehr geschickt darin, ihn immer wieder zu wecken.
    Nachdem Kirrith und die drei Mädchen verschwunden waren, eilte Lirael zu ihrem Zimmer zurück und suchte ihre warmen Sachen zusammen: einen dicken Mantel aus Wolle, der fettig von Lanolin war; eine Mütze aus Doppelfilz mit Ohrklappen; Öltuchüberschuhe; pelzgefütterte Handschuhe sowie eine in Leder gefasste Brille mit grünem Rauchglas. Ein Teil von ihr meinte, dass es dumm sei, sich solche Umstände zu machen, wenn sie sowieso nicht mehr lange leben würde; eine andere, leise Stimme jedoch meinte, dass es keinesfalls schaden könne, wenn sie sich vernünftig kleidete.
    Da alle bewohnten Teile des Clayr-Gletschers durch eine Rohrleitung beheizt wurden, die Dampf aus den tiefen Quellen nach oben leitete, hatte Lirael die Überschuhe und die anderen Sachen in den Wollmantel gewickelt, so dass sie ein Bündel hatte, das sie sich bequem unter den Arm klemmen konnte. Sie würde beim Erklimmen der Sternenberg-Treppe auch so ins Schwitzen kommen, ohne dass sie das warme Zeug trug. Als letzte Geste des
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