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Das alte Königreich 02 - Lirael

Titel: Das alte Königreich 02 - Lirael
Autoren: Garth Nix
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vernünftig genug, es nicht zu tun. Oberflächlich betrachtet waren die Segler aus Tausenden von Schichten laminierten Papiers gefertigt. Doch es steckte auch sehr viel Magie in ihnen, deshalb besaßen sie in einem bestimmten Maß sogar so etwas wie ein Wahrnehmungsvermögen. Die gemalten Augen vorne an dem grün und silbern gefärbten Flieger, vor dem Lirael stand, wirkten jetzt zwar stumpf, würden jedoch aufleuchten, wenn sie den Flieger berührte. Lirael hatte keine Ahnung, was dann geschehen würde. Sie wusste, dass die Segler durch gepfiffene Charterzeichen gelenkt wurden. Zwar konnte Lirael melodisch pfeifen, aber sie kannte die Zeichen nicht und wusste auch nicht, ob eine bestimmte Technik erforderlich war.
    So schlich sie an den Papierseglern vorbei zum Sternenberg-Tor. Es war riesig – groß genug, dass dreißig Personen oder zwei Papiersegler nebeneinander hindurchpassten, und bestimmt viermal so hoch wie Lirael. Glücklicherweise musste sie nicht einmal versuchen, das Tor zu öffnen, denn an der linken Seite befand sich eine normal große Tür, die sich mit ihrem Schlüssel und durch die Berührung des Schutzzaubers öffnen ließ. Lirael trat hinaus ins Freie, in Kälte und Sonnenschein.
    Die Kälte war sogar durch die dicke Kleidung zu spüren, und das Licht der Sonne blendete sie dermaßen, dass sie die Augen selbst hinter den grünen Brillengläsern zusammenkneifen musste. Es war ein wunderschöner Sommertag. Unten im Tal, außerhalb des Gletschers, war es sicherlich heiß, hier oben hingegen eisig. Die Kälte lag hauptsächlich am Wind, der über den Gletscher pfiff.
    Vor Lirael war eine breite, unnatürlich ebene Terrasse in die Bergwand geschnitten. Sie war etwa hundert Meter lang und fünfzig breit; dahinter befanden sich gewaltige Schneewehen und hohe Eisbrocken. Die Terrasse selbst war jedoch nur leicht mit Schnee bestäubt. Lirael wusste, dass Chartersendlinge hier aufräumten – durch Zauber erschaffene Diener, die Schnee schaufelten, fegten und sauber machten und das ganze Jahr hindurch Reparaturen vornahmen, ohne dass ihnen das Wetter etwas ausmachte. Derzeit waren keine Sendlinge zu sehen, doch die Chartermagie, die sie aussandten, erstreckte sich unter den Pflastersteinen der Terrasse.
    An der gegenüberliegenden Seite der Terrasse fiel der Berg steil ab. Lirael schaute hinüber, sah jedoch nichts als blauen Himmel und ein paar Wolkenfetzen. Sie würde die Terrasse überqueren müssen, um zur Hauptmasse des Gletschers blicken zu können, tausend Fuß unter ihr. Doch sie ging nicht hinüber. Stattdessen malte sie sich aus, was geschehen würde, wenn sie sprang. Fall sie sich weit genug hinauswarf, würde sie aufs Eis und in einen schnellen Tod stürzen. Blieb sie jedoch zu nahe an der Felswand, könnte sie auf vorstehende Zacken aufprallen, vielleicht nur dreißig oder vierzig Fuß tiefer, den Rest der Wand hinunterrutschen und sich bei jedem Aufprall einen anderen Knochen brechen.
    Schaudernd wandte Lirael sich ab. Jetzt, wo sie tatsächlich hier war und in ein oder zwei Minuten an der Felswand sein konnte, war sie ganz und gar nicht mehr sicher, dass Selbstmord eine so gute Idee war. Doch jedes Mal, wenn sie an die eigene Zukunft dachte, fühlte sie sich schwach und vom Leben abgeschnitten, als wären ihr alle Wege voraus von Wänden versperrt, die zu hoch waren, als dass sie darüber hinwegklettern konnte.
    Sie wollte die Terrasse überqueren, um wenigstens einen Blick die Klippe hinunter werfen zu können. Doch ihre Beine schienen einen eigenen Willen zu besitzen und trugen sie stattdessen längs über die Terrasse hinweg, ohne sie der Steilwand näher zu bringen.
    Eine halbe Stunde und drei, vier Versuche später kehrte sie zum Sternenberg-Tor zurück. Näher als fast bis zur Steilwand am Ende der Terrasse, von wo aus die Papiersegler starteten, war Lirael nie gekommen. Sie fragte sich, wie die Fluggeräte sich in die Lüfte erhoben. Sie hatte noch nie einen starten oder landen sehen und verbrachte geraume Zeit damit, sich diesen Anblick vorzustellen. Offenbar glitten die Segler übers Eis und erhoben sich dann an irgendeinem Punkt in den Himmel – aber wo genau? Brauchten sie einen langen Anlauf, wie die blauen Pelikane, die sie auf dem Ratterlin gesehen hatte, oder schossen sie senkrecht empor wie Falken?
    Diese Fragen steigerten Liraels Neugier, wie die Papiersegler tatsächlich funktionierten. Sie dachte daran, sich im Hangar eines dieser wundersamen Fluggeräte näher anzusehen,
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