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Das alte Königreich 02 - Lirael

Titel: Das alte Königreich 02 - Lirael
Autoren: Garth Nix
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heruntergerissen, und jetzt hing er über der Lehne ihres Stuhls.
    Lirael sah sich in der kleinen Kammer um, doch es gab keine weiteren Anzeichen anderer nächtlicher Wirrnisse. Der schlichte Schrank aus Kiefernholz stand da wie zuvor, und der stumpfe Stahlriegel war vorgelegt. Schreibtisch und Stuhl befanden sich in der gegenüberliegenden Ecke. Der Übungsdegen hing in seiner Hülle an der Tür.
    Es musste eine verhältnismäßig ruhige Nacht gewesen sein. Manchmal, wenn Albträume sie plagten, stapfte Lirael umher und redete laut. Doch immer nur in ihrem Zimmer, ihrem so sehr geschätzten Zimmer. Schon der Gedanke, in den Gruppenraum zurückkehren zu müssen, war ihr unerträglich.
    Sie schloss die Augen und lauschte. Es war ganz still, was nur bedeuten konnte, dass es noch zu früh war, das Bett zu verlassen. Jeden Tag läutete die Weckglocke zur gleichen Stunde und rief die Clayr aus ihren Betten, um den neuen Morgen zu begrüßen.
    Lirael kniff die Augen fest zusammen und bemühte sich wieder einzuschlafen. Sie sehnte sich nach dem Gefühl zurück, dass eine weiche Hand über ihre Stirn strich. Diese Berührung war alles, was sie an ihre Mutter erinnerte. Kein Gesicht, keine Stimme – nur die Berührung durch ihre kühle Hand.
    Sie brauchte diese Berührung heute ganz besonders. Aber ihre Mutter war schon vor langer Zeit aus ihrem Leben geschieden und hatte das Geheimnis mitgenommen, wer Liraels Vater war. Lirael war erst fünf gewesen, als ihre Mutter verschwand – einfach so, wortlos, ohne jede Erklärung. Und dann hatte sie fünf Jahre später die Nachricht von ihrem Tod erhalten, eine verstümmelte Nachricht aus dem fernen Norden, die drei Tage vor Liraels zehntem Geburtstag eingetroffen war.
    Nachdem sie wieder an dieses traurige Ereignis gedacht hatte, konnte sie unmöglich noch einmal einschlafen. Wie an vielen anderen Morgen gab Lirael den Versuch auf, die Augen geschlossen zu halten, sondern öffnete sie weit und starrte ein paar Minuten an die Zimmerdecke. Der Stein hatte sich über Nacht nicht verändert. Er war nach wie vor grau und kalt, mit winzigen, rosafarbenen Einschlüssen.
    Auch ein Charterzeichen für Licht glühte dort oben warm und golden im Stein. Seit sie nun ganz wach war, leuchtete das Zeichen heller, und es wurde noch strahlender, als sie die Beine aus dem Bett schwang und mit den Zehen nach ihren Halbschuhen tastete. Die Räume der Clayr wurden mit dem Dampf der heißen Quellen und durch Magie beheizt, doch der Steinboden war stets kalt.
    »Heute bin ich vierzehn«, flüsterte Lirael. Sie hatte die Halbschuhe nun an, machte jedoch keine Anstalten aufzustehen. Seit sie kurz vor ihrem zehnten Geburtstag die Botschaft vom Tod ihrer Mutter erhalten hatte, waren all ihre Geburtstage von dieser leidvollen Erinnerung überschattet gewesen.
    »Vierzehn!«, rief Lirael erneut, und Besorgnis lag in ihrer Stimme. Sie war vierzehn, und nach den Maßstäben der Welt außerhalb des Gletschers der Clayr eine Frau. Doch hier musste sie noch den blauen Kittel eines Kindes tragen, denn die Clayr rechneten das Erwachsensein nicht nach dem Alter, sondern nach der Gabe des Sehens.
    Wieder schloss Lirael die Augen und kniff die Lider fest zusammen, als sie sich anstrengte, die Zukunft zu Sehen. Alle anderen in ihrem Alter besaßen die Gabe der Sicht. Viele jüngere Kinder trugen bereits das weiße Gewand und den Mondsteinreif. Es war kaum vorstellbar, mit vierzehn noch nicht die Sicht zu haben.
    Lirael schlug die Augen wieder auf, nahm jedoch keine Vision wahr. Sie sah nur – ein wenig verschwommen von ihren Tränen – die einfache Kammer, in der sie sich befand. Sie wischte die Tränen ab und stand auf.
    »Keine Mutter, kein Vater, keine Sicht«, murmelte sie, während sie den Schrank öffnete und ein Handtuch herausnahm. Es war eine oft geflüsterte Litanei – zu oft, denn jedes Mal empfand sie diese Worte wie einen Stich in eine offene Wunde. Es war sogar noch schlimmer, als mit der Zunge immer wieder über einen schmerzenden Zahn zu streichen. Es tat weh, aber sie konnte es nicht lassen. Diese seelische Verwundung war nun zu einem Teil ihres Selbst geworden.
    Doch irgendwann – vielleicht war der Tag gar nicht mehr fern – würde sie von der Stimme der Neuntagewache gerufen werden. Dann würde sie eines Morgens erwachen und sagen: »Ich habe keine Mutter und keinen Vater mehr, aber die Gabe der Sicht!«
    »Ich werde die Sicht bekommen«, murmelte Lirael vor sich hin, während sie leise die Tür
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