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Das alte Haus am Meer

Das alte Haus am Meer

Titel: Das alte Haus am Meer
Autoren: wentworth
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haben es gesagt.«
»Ja? Und wer?«
»Ich weiß nicht. Ich stand hinter der Hecke …« Ihre Stimme verlor sich. Ihre Augen blieben offen, aber sie sahen nicht Miss Silver, sondern die Hecke, einen langen dunklen Wall aus Eiben, mit kleinen blutroten Beeren durchsetzt. Sie war nicht mehr im Zugabteil. Sie stand dicht hinter der Hecke, die Sonne brannte ihr heiß auf den Rücken, und sie hatte den seltsamen modrigen Geruch der Eiben in der Nase. Sie betrachtete eine der leuchtend roten, blühenden Beeren, und plötzlich hörte sie Stimmen von der anderen Seite der Hecke:
»Du weißt ja, was man sich erzählt …« Eine träge, schleppende Stimme.
»Du kannst es mir genauso gut sagen.« Das kam schneller und amüsiert.
Dann wieder die erste Stimme.
Unvermittelt sprach Lisle mit der betulichen kleinen Frau in der gegenüberliegenden Ecke. Wenn sie redete, würden die anderen Stimmen verstummen.
»Ich wusste zuerst nicht, dass sie über Dale sprachen. Ich hätte nicht lauschen sollen, aber ich konnte nicht anders.«
Miss Silver öffnete ihre Tasche und steckte die Zeitschrift weg. Geruhsam strickte sie nun am zweiten Paar grauer Strümpfe für Ethels Ältesten. Die glänzenden Metallnadeln klapperten, als sie sagte:
»Sehr verständlich. Und Dale ist Ihr Mann?«
»Ja.«
Es war eine Erleichterung, zu reden. Der Klang ihrer eigenen Stimme erstickte die Stimmen, die über Dale gesprochen hatten. Wenn sie schwieg, dann tönten sie endlos weiter in ihrem Kopf – im Kreis und im Kreis und im Kreis, wie eine Schallplatte. Gerade fingen sie wieder an, und sie roch schon wieder die Eiben in der Sonne.
»Für ihn kam der Unfall äußerst gelegen.« Ein tiefes, verhaltenes Lachen.
Und dann die andere Stimme mit sadistischem Eifer:
»Manche Leute haben einfach Glück. Dale Jerningham ist so ein Glückspilz.«
Da hatte sie begriffen, dass sie über Dale redeten. Mit schwacher Stimme fuhr sie fort:
»Ich wusste doch nicht … bis dahin hatte ich nicht gewusst … erst als sie das sagten.«
Miss Silver wendete den Strumpf.
»Erst als sie was sagten, Kindchen?«
Lisle fuhr fort. Ihre Gedanken waren nicht bei Miss Silver. Es war leichter zu reden, als den Stimmen zuzuhören, die sich in ihrem Kopf drehten.
»Sie sagte, Dale habe Glück gehabt, weil seine erste Frau einen Unfall hatte. Er war noch sehr jung, als er sie heiratete, erst zwanzig, wissen Sie, und sie war älter als er
– ziemlich viel älter –, und sie hatte viel Geld. Darüber haben sie geredet. Sie sagten, Dale hätte Tanfield verkaufen müssen, wenn er sie nicht geheiratet hätte. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Ich weiß nicht, ob überhaupt etwas davon stimmt. Sie hieß Lydia. Sie sagten, er hätte sie nicht geliebt, aber sie sei ihm sehr zugetan gewesen. In ihrem Testament habe sie ihm alles vermacht, und einen Monat später sei sie beim Bergwandern in der Schweiz ums Leben gekommen. Sie sagten, Dale sei der Unfall sehr gelegen gekommen. Das Geld habe Tanfield gerettet. Ich weiß nicht, ob es stimmt.«
Miss Silver betrachtete sie ernst. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Ihre Stimme war ausdruckslos. Keine Farbe. Kein Leben. Hier ging es um mehr als den Tod – den Unfalltod – einer ihr unbekannten ersten Ehefrau vor vielen Jahren. Sie sagte:
»Ich bin eine große Bewunderin des verstorbenen Lord Tennyson. Es ist ein Jammer, dass er heute kaum noch gelesen wird, aber ich denke, die Zeit wird kommen, in der man ihm wieder gerecht wird. ›Eine Halbwahrheit ist die schlimmste aller Lügen‹, schrieb er, und daran sollten wir uns immer erinnern, wenn wir bösartigen Klatsch hören.«
Die Worte gingen durch Lisle hindurch, aber die ruhige, bestimmte Stimme beruhigte sie. In fast bittendem Tonfall sagte sie:
»Sie glauben also, dass es nicht wahr ist?«
»Ich weiß es nicht, meine Liebe.«
»Sie ist abgestürzt«, erzählte Lisle, »und dabei ums Leben gekommen … Lydia … ich kannte sie nicht, es ist schon lange her. Und sie sagten, Dale habe Glück gehabt …«
Miss Silvers Nadeln stoppten.
»Ich glaube, sie haben noch mehr gesagt. Was genau haben Sie gesagt?«
Lisle legte mit einer seltsam verängstigten Geste die Hand an die Wange. Sie wollte ja weitersprechen, aber sie wollte nicht über das reden, was sie wirklich geängstigt hatte. Wenn sie sich dem auch nur in Gedanken näherte, wurde alles in ihr kalt und gefühllos. Sie spürte noch keinen Schmerz, aber der Schmerz würde kommen, wenn die gefühllose Panik nachließ, Qualen würden kommen. Reden würde es
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