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Das alte Haus am Meer

Das alte Haus am Meer

Titel: Das alte Haus am Meer
Autoren: wentworth
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solch hellblonden Haaren hätte blaue Augen, aber diese Augen, die sich jetzt auf die vorbeiziehende Landschaft richteten, waren von einem intensiven Grau mit Wimpern, die wesentlich dunkler waren als das sehr helle Haar. Die Augenbrauen waren golden, schmal und seltsam geschwungen, wie zarte goldene Flügel ausgebreitet zum Flug. Dieser Goldton war die einzige Farbe in dem Gesicht. Miss Silver glaubte, noch nie einen lebenden Menschen gesehen zu haben, der so bleich war. Der sehr helle Teint verstärkte die erschreckende Wirkung noch.
    Die Frau trug ein exquisit geschnittenes graues Flanellkostüm. Alles, was sie anhatte, war völlig schlicht. Aber genau diese Schlichtheit war nicht ohne Geld zu erzielen. Der kleine graue Filzhut mit blauer Kordel saß nachlässig schräg, die graue Handtasche mit der Initiale L, edle Seidenstrümpfe, die Qualität der grauen Schuhe, all das fiel Miss Silver auf. Ihr Blick wanderte zu den unbehandschuhten Händen, sah einen Ehering aus Platin und glitt zurück in ihren eigenen graubraunen Schoß. Ihr geübter Verstand fasste das Beobachtete in drei Wörtern zusammen: Schock, Geld, verheiratet.
    Sie nahm die Zeitschrift, die Ethel ihr freundlicherweise besorgt hatte, und begann zu blättern. Nachdem sie drei Seiten in rascher Folge umgeblättert hatte, hielt sie inne. Ihr Blick, anfangs konzentriert, wurde vage.
    Nach einer Weile schloss sie die Zeitschrift und beugte sich vor.
»Möchten Sie gerne etwas lesen? Interessiert Sie das vielleicht?«
Die grauen Augen wandten sich zögernd ihr zu. Sie hatte den Eindruck, sie mühten sich angestrengt, sie wahrzunehmen. All die flachen grünen Felder mit den schachbrettartig angeordneten Hecken, alle von derselben Größe, die mit zunehmender Geschwindigkeit des Zugs immer schneller an ihnen vorbeiflogen, hatten sie jedenfalls nicht wahrgenommen. Sie sah auch Miss Silver nicht wirklich, aber sie bemühte sich.
Miss Silver verwarf die Zeitschrift als Lockmittel und sagte ohne Umschweife:
»Irgendetwas ist nicht in Ordnung, habe ich Recht? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
Die freundliche und feste Stimme erreichte Lisle Jerningham – die Stimme, nicht die Worte. Sie vernahm natürlich die Worte, so wie sie das Rattern des Zugs vernahm, aber sie hatten ebenso wenig Bedeutung für sie. Die Stimme aber erreichte sie. Die Benommenheit wich etwas aus ihren Augen. Sie sah Miss Silver an und sagte:
»Das ist sehr freundlich von Ihnen.«
»Sie stehen unter Schock.«
Das war eine Feststellung, keine Frage.
Lisle sagte: »Ja«, und dann, »woher wissen Sie das?«
»Sie hatten es sehr eilig wegzukommen.«
»Ja.« Zaudernd wiederholte sie ihre Frage. »Woher wissen Sie das?«
»Dies ist der Zug noch London. Sie würden nicht ohne Handschuhe nach London fahren, wenn sie es nicht sehr eilig gehabt hätten. Und sie sind auch nicht in ihrer Handtasche. Diese flache Art von Handtasche würde beulen, wenn sich Handschuhe darin befänden.«
Wieder war es die freundliche, bestimmte Stimme, die Lisle erreichte und beruhigte. Irgendetwas an der Stimme gab ihr ein Gefühl von Sicherheit. Wie ein gequältes Echo sagte sie: »Ich hatte es sehr eilig.«
»Warum?«, erkundigte sich Miss Silver.
»Sie haben gesagt, er wolle mich umbringen«, antwortete Lisle Jerningham.
Miss Silver zeigte sich weder überrascht noch ungläubig. Sie hörte so etwas nicht zum ersten Mal. Genau genommen war es ihr Beruf, sich um solche Dinge zu kümmern.
»Du meine Güte«, sagte sie, »und wer will Sie angeblich umbringen?«
Lisle Jerningham sagte: »Mein Mann …«
    2

    Miss Silver blickte sie fest an. Bei einem labilen Gemütszustand kam es nicht selten zu solchen Anschuldigungen. Sie hatte es schon mit Verfolgungswahn zu tun gehabt, aber sie hatte es auch mit Mord zu tun gehabt, und nicht nur mit versuchtem. Mehr als einmal war es nur ihrem Eingreifen zu verdanken gewesen, dass der Versuch vereitelt werden konnte. Sie wandte den Blick nicht von Lisle Jerningham und stufte sie als zurechnungsfähig ein, normal, aber durch den Schock vorübergehend nicht bei Sinnen. Ein Schock wirkt manchmal wie ein Narkosemittel. Man hat sich nicht mehr unter Kontrolle, die Zunge wird gelöst und die Zurückhaltung schwindet.
    All dies ging ihr rasch durch den Kopf. Sie wiederholte leise ihr »du meine Güte« und fragte:
»Wie kommen Sie darauf, dass Ihr Mann Sie umbringen will?«
In Lisles Gesicht regte sich nichts. Sie hatte fast tonlos und ohne Emotion gesprochen. So fuhr sie auch fort.
»Sie
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