Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das alte Haus am Meer

Das alte Haus am Meer

Titel: Das alte Haus am Meer
Autoren: wentworth
Vom Netzwerk:
habe zwei Tage in Zügen und Büros verbracht, ich laufe ein Stück.« Und damit verschwand er zwischen den Bäumen.
    6

    Lisle ging zu den Klippen. Sie mochte Tanfield nicht, aber sie liebte die niedrigen Klippen über dem Meer. Von dort, wo sie mit Dale geredet hatte, führte ein Graspfad unter Bäumen hindurch zu dem Punkt, wo sie den Blick freigaben auf die Bucht mit dem flachen Wasser, das unter Sonne und Wolken ständig die Farbe änderte. Obwohl nur etwa fünf Meter hoch, waren die Klippen früher gefährlich gewesen. Dales Vater hatte sie vor fünfzig Jahren mit einem niedrigeren Steinmäuerchen abgesichert, das nur an einer Stelle unterbrochen war. Dort führten die Stufen zum Badestrand hinunter.
    Lisle setzte sich auf die Mauer und blickte über das Wasser. Es war halb sechs, und die Sonne neigte sich über der Landzunge Tane Head. Gleich würde sie dort untergehen, und der Schatten der Landspitze würde sich wie verschüttete Tinte ausbreiten, bis er den Fuß der Klippen erreichte. Noch aber war das Wasser leuchtend klar und der Schatten erst eine Linie auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht. Es war ein heißer Tag gewesen, doch hier blies der Wind frisch vom Meer her. Bei der ersten Berührung fröstelte sie ein wenig in ihrem grünen Leinenkleid, dann vergaß sie, ob ihr warm war oder kalt. Dale war wütend. Sie hatte gewusst, dass er wütend sein würde. Selbst wenn sie ihm alles erzählt hätte, wäre er über ihre Flucht erbost gewesen. Wütend und voller Verachtung. Die Verachtung schmerzte mehr als die Wut, und sie konnte sich nicht dagegen wappnen; denn wenn Dale sie verachtete, verachtete sie sich auch. Sie war weggelaufen statt mit der Kraft ihrer eigenen Überzeugungen und ihrem Vertrauen den Verleumdungen entgegenzutreten. Sie blickte über das Wasser, und ihre Augen füllten sich langsam mit brennenden Tränen. Sie war zutiefst beschämt und unglücklich, aber dahinter saß noch immer so etwas wie Angst.
    Lange saß sie dort auf der Mauer; der Schatten kroch über das Wasser. Das Blau verlor seine Farbe und changierte kaum merklich zu Grau. Jemand näherte sich ihr von hinten und blieb dort eine ganze Weile stehen, bevor er ihren Namen sagte. Als sie sich erschrocken umdrehte, sah sie, dass es Rafe war. Er hatte sich einen Pullover über das weiße Tennishemd gezogen und reichte ihr eine bunte Jacke mit grünen und roten Streifen und Karos auf beigem Grund.
    »Das ist doch deine, oder? Wie kannst du bloß in diesem dünnen Kleid und ohne Jacke hier heruntergehen. So wie du gestern ausgesehen hast.«
    »Mir war nicht kalt.« Doch sie zitterte beim Sprechen. Rafe zog eine Grimasse.
»Willst du unbedingt krank werden? Oder ist das schon
    nicht mehr nötig? Hier, zieh das Ding an. Was ist los mit dir?«
»Nichts.«
Sie machte die Jacke zu. Sie fühlte sich weich und warm an, so als würden die fröhlichen Farben etwas von ihrer Wärme abgeben. Dale mochte Farben, und seinetwegen hatte sie die Jacke gekauft – wenn auch etwas unsicher –, denn sie selbst fühlte sich in zarteren Farben wohler. Aber jetzt war sie froh über die Farben. Sie knöpfte die Jacke zu, ohne Rafe anzusehen oder weiter an ihn zu denken.
Aber er zog sie wieder auf die flache Mauer und setzte sich neben sie, mit dem Rücken zu Tane Head. Seine Augen leuchteten, und der Wind zerzauste sein Haar. »Was ist eigentlich los, Kleines?«
»Nichts.«
»Sturm im Wasserglas? Wahrscheinlich, das ist es doch meistens.« Er sang in leisem Tenor: » Car ici-bas tout passe, tout lasse, tout casse. So ist es nun mal, und je schneller es vorbei ist, desto schneller kann man schlafen. Ich kenne noch viel mehr rührselige Zitate. Aber was ist nun eigentlich mit dir los? Als du gestern heimkamst, sahst du aus wie ein Totenkopf auf Urlaub, und kaum fängst du dich wieder ein bisschen, erscheint Dale und du bist wieder völlig kopflos. Was ist los?«
»Nichts.«
»Red keinen Unsinn.« Er griff ihre Hände und schüttelte sie hin und her. »Schau mich nicht an wie ein hypnotisiertes Kaninchen, sondern erzähl mir, was bei den Cranes passiert ist.«
»Also wirklich, Rafe …«
»Ja, wirklich. Ich will es wissen, und ich werde es erfahren. Komm schon, du wirst dich besser fühlen, wenn du es dir von der Seele geredet hast. Hat dir eine süße weibliche Seele erzählt, dass Dale und Marian ein Verhältnis hatten?«
Seine Augen blitzten mutwillig. »Da ist nichts dran, weißt du, aber ich nehme an, du hast alles geschluckt, bist nach Hause
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher