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Das 6. Buch des Blutes - 6

Das 6. Buch des Blutes - 6

Titel: Das 6. Buch des Blutes - 6
Autoren: Clive Barker
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letztes Mal an, bevor sie abgerissen wird?«
    »Ganz recht. Ich habe die Inschriften auf den Bodensteinen betrachtet. Manche sind äußerst umfangreich.« Er schob mit dem Fuß ein Stück Holz von einer der Platten. »Was für ein Verlust. Ich bin sicher, sie werden die Steine einfach zertrümmern, wenn sie anfangen, den Boden aufzureißen…«
    Sie betrachtete das Flickwerk aus Gedenktafeln zu ihren Füßen. Nicht alle waren beschriftet, und von denen, die es waren, trugen viele einfach nur Namen und Daten. Aber es waren auch einige Sprüche darunter. Eine, links von Kavanagh, zeigte ein fast schon abgetretenes Relief gekreuzter Schienbeine, gleich Trommelstöcken, und das unvermittelte Motto: BÜSSET DIE ZEIT.
    »Ich glaube, es war irgendwann einmal eine Krypta da unten«, sagte Kavanagh.
    »Oh. Ich verstehe. Und das sind die Menschen, die dort begraben wurden.«
    »Nun, ich kann mir keinen anderen Grund für die Inschriften denken, Sie vielleicht? Ich habe mir überlegt, ob ich die Arbeiter bitte…« Er verstummte mitten im Satz. »… Sie denken wahrscheinlich, daß das eindeutig morbid von mir ist…«
    »Was?«
    »Nun, einfach ein oder zwei der besseren Platten vor der Vernichtung zu bewahren.«
    »Ich finde das nicht morbid«, sagte sie. »Sie sind sehr schön.«
    Ihre Antwort ermutigte ihn offensichtlich. »Vielleicht sollte ich gleich mit ihnen reden«, sagte er. »Würden Sie mich einen Augenblick entschuldigen?«
    Er ließ sie wie eine verlassene Braut im Kirchenschiff stehen, um nach draußen zu gehen und einen der Arbeiter zu fragen. Sie schlenderte dorthin, wo der Altar gewesen war, und las dabei die Namen. Wer wußte noch von den Ruhestätten dieser Menschen, wen kümmerten sie noch? Zweihundert Jahre und länger tot, nicht in eine liebende Nachwelt eingegangen, sondern in die Vergessenheit. Und plötzlich zerstoben die unartikulierten Hoffnungen auf ein Leben nach dem Tode, die sie vierunddreißig Jahre lang gehegt hatte; der verschwommene Wunsch, in den Himmel zu kommen, belastete sie nicht mehr.
    Eines Tages, vielleicht heute, würde sie sterben, genau so, wie diese Menschen gestorben waren, und es würde kein Jota aus-machen. Nichts würde kommen, nichts, wonach man streben konnte, nichts, von dem man träumen konnte. Sie stand da, angestrahlt von rauchgesättigtem Sonnenschein, dachte darüber nach und war beinahe glücklich.
    Kavanagh kam von seiner Unterhaltung mit dem Vorarbeiter zurück.
    »Da ist tatsächlich eine Krypta«, sagte er, »aber sie wurde bisher noch nicht geräumt.«
    »Oh.«
    Sie sind immer noch da unten, dachte sie. Staub und Knochen.
    »Offenbar haben sie Schwierigkeiten hineinzukommen.
    Sämtliche Zugänge wurden versiegelt. Darum graben sie an den Fundamenten. Um einen anderen Weg hinein zu finden.«
    »Werden Kryptas normalerweise versiegelt?«
    »Nicht so gründlich wie diese hier.«
    »Vielleicht war kein Platz mehr«, sagte sie.
    Kavanagh nahm die Bemerkung sehr ernst. »Vielleicht«, sagte er.
    »Werden sie Ihnen eine der Platten geben?«
    Er schüttelte den Kopf. »Das können sie nicht entscheiden.
    Sie sind nichts weiter als Lakaien des Stadtrats. Offenbar kommt eine Firma professioneller Ausgräber und verfrachtet die Leichen zu neuen Begräbnisstätten. Es muß alles mit dem entsprechenden Anstand getan werden.«
    »Denen wird das egal sein«, sagte Elaine und betrachtete wieder die Steinplatten.
    »Dem muß ich zustimmen«, sagte Kavanagh. »Mir scheint der Aufwand übertrieben. Aber vielleicht sind wir nicht gottesfürchtig genug.«
    »Möglich.«
    »Sie haben mir jedenfalls gesagt, ich soll morgen oder übermorgen noch einmal kommen und die Leute fragen, die den Umzug organisieren.«
    Sie lachte bei der Vorstellung, daß die Toten umzogen; daß sie ihre Siebensachen zusammenpackten. Kavanagh freute sich, daß er einen Witz gemacht hatte, auch wenn er unbeabsichtigt gewesen war. Er ritt auf der Welle seines Erfolges, als er sagte:
    »Ich frage mich, ob ich Sie auf einen Drink einladen dürfte?«
    »Ich fürchte, ich wäre keine sehr angenehme Gesellschaft«, sagte sie. »Ich bin wirklich sehr müde.«
    »Vielleicht könnten wir uns später treffen«, sagte er.
    Sie wandte sich von seinem eifrigen Gesicht ab. Er war auf seine unauffällige Weise angenehm. Ihr gefiel die grüne Krawatte - sicherlich ein Scherz auf Kosten seiner eigenen Freudlosigkeit. Auch sein Ernst gefiel ihr. Aber sie konnte die Vorstellung nicht ertragen, mit ihm zu trinken; wenigstens nicht
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