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Das 6. Buch des Blutes - 6

Das 6. Buch des Blutes - 6

Titel: Das 6. Buch des Blutes - 6
Autoren: Clive Barker
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ein leises, kurzes »Ja« von sich, und dann, lauter:
    »Mein Gott, ja. Sie haben recht. Immer um uns selbst…«
    »Sehen Sie, wieviel uns die Toten lehren können, indem sie einfach nur daliegen und ihre Däumchenknochen drehen?«
    Sie lachte; er stimmte in ihr Lachen ein. Sie hatte ihn bei ihrer ersten Begegnung falsch eingeschätzt, als sie dachte, sein Gesicht wäre nicht ans Lachen gewöhnt. Das stimmte nicht.
    Aber als das Lachen verebbte, nahmen seine Züge rasch wieder jene unheimliche Gelassenheit an, die ihr als erstes aufgefallen war.
    Als er ihr, nach einer weiteren halben Stunde seiner lakonischen Bemerkungen, schließlich sagte, er habe Verabredungen einzuhalten und müsse sich auf den Weg machen, dankte sie ihm für seine Gesellschaft und sagte: »Seit Wochen hat mich niemand mehr so zum Lachen gebracht. Ich bin Ihnen sehr dankbar.«
    »Sie sollten lachen«, sagte er zu ihr. »Es paßt zu Ihnen.«
    Dann fügte er hinzu: »Sie haben wunderschöne Zähne.«
    Sie dachte über diese seltsame Bemerkung nach, nachdem er gegangen war, wie auch über einige andere, die er im Verlauf des Nachmittags gemacht hatte. Er war zweifellos eine der ausgefallensten Persönlichkeiten, die sie je kennengelernt hatte, aber er war – mit seinem Eifer, von Krypten und den Toten und der Schönheit ihrer Zähne zu sprechen – genau im richtigen Augenblick in ihr Leben getreten. Er war die perfekte Ablenkung von ihrem vergrabenen Kummer, neben seinen wirkten ihre momentanen Irrwege unbedeutend. Als sie nach Hause ging, fühlte sie sich beschwingt. Hätte sie sich nicht besser gekannt, wäre sie der Meinung gewesen, sie hätte sich schon halb in ihn verliebt.
    Während der Rückfahrt, und später am Abend, dachte sie vor allem an den Scherz, den er gemacht hatte, den über die Toten, die ihre Däumchenknochen drehten, und dieser Gedanke führte unweigerlich zu den Geheimnissen, die unsichtbar in der Krypta warteten. Nachdem ihre Neugier erst einmal geweckt worden war, ließ sie sich nicht mehr ohne weiteres zum Schweigen bringen; der Wunsch wurde immer stärker in ihr, diese Absperrungen hinter sich zu lassen und die Grabkammer mit eigenen Augen zu sehen. Das war ein Verlangen, das sie sich früher niemals eingestanden hätte. (Wie oft war sie von einer Unfallstelle weggelaufen und hatte sich ermahnt, die beschämende Neugier zu zügeln, die sie empfand?) Aber Kavanagh hatte ihr Verlangen mit seinem überschäumenden Enthusiasmus für Begräbnisangelegenheiten legitimiert. Nun, da das Tabu gebrochen war, wollte sie zur Kirche Allerheiligen zurückkehren und dem Tod ins Antlitz schauen, und wenn sie Kavanagh das nächste Mal sah, würde auch sie ein paar Geschichten zu erzählen haben. Diese Vorstellung, kaum erknospt, entfaltete sich zu voller Blüte, und sie zog sich am späten Abend noch einmal zum Ausgehen an und machte sich auf den Weg zu dem Platz.
    Sie war erst weit nach halb zwölf Uhr nachts bei der Kirche Allerheiligen, aber es waren immer noch Anzeichen von Aktivität an der Abbruchstelle zu erkennen. Scheinwerfer, auf Stati-ve montiert und auch an der Kirche selbst angebracht, schütteten ihr Licht über dem Schauplatz aus. Ein Trio Techniker, Kavanaghs sogenannte Umzugsmänner, standen außerhalb der Segeltuchabdeckung; sie hatten von Müdigkeit ausgezehrte Gesichter, und ihr Atem kondensierte in der kalten Luft. Elaine hielt sich versteckt und beobachtete die Szene. Sie fror immer mehr, und die Narben taten allmählich weh, aber es war eindeutig, daß die nächtlichen Arbeiten in der Krypta mehr oder weniger abgeschlossen waren. Nach einem kurzen Wortwechsel mit den Polizisten entfernten sich die Techniker. Sie hatten sämtliche Flutlichter ausgeschaltet, bis auf eines, das den Schauplatz – Kirche, Segeltuch und umliegendes Erdreich – mit harten Schlagschatten versah.
    Die beiden Beamten, die als Wachen dablieben, nahmen es mit ihrer Pflichterfüllung nicht so genau. Welcher Idiot, dachten sie wohl, würde um diese Zeit und bei solchen Temperaturen zum Grabräubern kommen? Nachdem sie ein paar Minuten lang füßestampfend Wache gehalten hatten, zogen sie sich in die relative Behaglichkeit der Bauhütte zurück. Da sie nicht mehr herauskamen, schlich Elaine aus ihrem Versteck und schritt, so vorsichtig sie konnte, zu dem Band, das eine Zone von der anderen trennte. In der Hütte war ein Radio eingeschaltet worden; der Lärm (Musik für Liebende von der Abend- bis zur Morgendämmerung, schnurrte die ferne
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