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Das 6. Buch des Blutes - 6

Das 6. Buch des Blutes - 6

Titel: Das 6. Buch des Blutes - 6
Autoren: Clive Barker
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Verlustes. In dem von einem milden November und anschließenden plötzlichen Frosteinbrüchen verursachten Tod der Zwiebeln im Blumenkasten auf dem Fenstersims; in dem Gedanken an den wilden Hund, von dem sie heute morgen gelesen hatte, erschossen in Epping Forest.
    Die Kellnerin kam mit frischem Tee zurück, nahm aber den Teller nicht mit. Elaine rief sie zurück und bat sie darum. Widerwillig gehorchte sie.
    Abgesehen von Elaine waren jetzt keine Gäste mehr da, und die Kellnerin beschäftigte sich damit, die Speisekarten des Mittagessens von den Tischen zu nehmen und durch die des Abendessens zu ersetzen. Elaine sah zum Fenster hinaus. In den vergangenen Minuten waren Schleier blaugrauen Rauches die Straße entlanggezogen; sie verdichteten das Sonnenlicht.
    »Sie verbrennen wieder«, sagte die Kellnerin. »Der verdammte Gestank dringt überallhin.«
    »Was verbrennen sie denn?«
    »Das ehemalige Gemeindezentrum. Sie reißen es ab und bauen ein neues. Eine Verschwendung von Steuergeldern.«
    Der Rauch drang tatsächlich in das Restaurant. Elaine fand ihn nicht unangenehm; er weckte süße Erinnerungen an den Herbst, ihre Lieblingsjahreszeit. Neugierig geworden, trank sie ihren Tee leer, zahlte und beschloß dann, spazierenzugehen und die Ursache des Geruchs zu suchen. Sie mußte nicht weit gehen. Am Ende der Straße lag ein kleiner Platz; die Abbruchstelle verdeckte ihn fast ganz. Allerdings gab es eine Überraschung. Das Gebäude, das die Kellnerin als Gemeindezentrum beschrieben hatte, war in Wirklichkeit eine Kirche; jedenfalls gewesen. Turmspitze und Ziegel waren schon abgedeckt, so daß die Dachbalken nackt vor dem Himmel standen; die Fenster waren des Glases entkleidet; das Gras der Rasenfläche neben der Kirche war verschwunden, und zwei Bäume hatte man dort gefällt. Ihr Scheiterhaufen war es, der den verlockenden Geruch verströmte.
    Elaine bezweifelte, ob das Gebäude jemals schön gewesen war, aber es war so viel von seiner Struktur erhalten, daß man annehmen konnte, es habe Charme besessen. Der verwitterte Sandstein bildete inzwischen einen krassen Gegensatz zu seiner Umgebung aus Backstein und Beton, aber seine belagerte Situation (die Arbeiter, die sich mit seiner Vernichtung abmühten, die bereitstehenden Bulldozer, die nach Geröll gierten) verlieh ihm eine gewisse Pracht.
    Ein oder zwei der Arbeiter bemerkten Elaine, wie sie dastand und ihnen zusah, aber keiner unternahm einen Versuch, sie aufzuhalten, als sie den Platz überquerte, zum Portal der Kirche ging und hineinspähte. Das Innere, ohne seine dekorativen Skulpturen, ohne Kanzel, Bänke, Weihwasserbecken und den ganzen Rest, war schlicht und einfach ein Raum aus Stein, dem jegliche Atmosphäre oder Autorität fehlten. Aber einer hatte hier etwas von Interesse gefunden. Am anderen Ende der Kirche stand ein Mann mit dem Rücken zu Elaine und musterte eingehend den Boden. Als er Schritte hinter sich hörte, sah er sich schuldbewußt um.
    »Oh«, sagte er. »Wird nicht lange dauern.«
    »Schon gut…« sagte Elaine. »Ich glaube, wir sind beide Eindringlinge. «
    Der Mann nickte. Er war ernst – beinahe düster – gekleidet, abgesehen von einer grünen Krawatte. Obwohl die Aufmachung und das graue Haar auf einen Mann mittleren Alters schließen ließen, waren seine Gesichtszüge seltsam glatt, als würde die perfekte Gleichgültigkeit weder von Lächeln noch Stirnrunzeln jemals gestört.
    »Traurig, nicht?« sagte er. »So etwas mit anzusehen.«
    »Kannten Sie die Kirche, wie sie vorher war?«
    »Ich bin ab und zu hergekommen«, sagte er, »aber sie war nie sehr beliebt.«
    »Welchen Namen hatte sie?«
    »Allerheiligen. Ich glaube, sie wurde im späten siebzehnten Jahrhundert erbaut. Gefallen Ihnen Kirchen?«
    »Nicht besonders. Ich habe nur den Rauch gesehen und…«
    »Bilder der Zerstörung sehen alle gern«, sagte er. »Ja«, antwortete sie. »Das stimmt wohl.«
    »Genauso wie Beerdigungen. Lieber sie als wir, nicht?«
    Sie murmelte etwas Zustimmendes, aber mit den Gedanken war sie woanders. Wieder im Krankenhaus. Bei ihren Schmerzen und dem momentanen Genesungsprozeß. Bei ihrem Leben, das nur gerettet war, weil sie die Fähigkeit, weiteres Leben hervorzubringen, verloren hatte. Lieber sie als wir.
    »Mein Name ist Kavanagh«, sagte er und legte die kurze Entfernung zwischen ihnen mit ausgestreckter Hand zurück.
    »Angenehm«, sagte sie. »Ich bin Elaine Rider.«
    »Elaine«, sagte er. »Wie hübsch.«
    »Sehen Sie sich die Kirche ein
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