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Das 6. Buch des Blutes - 6

Das 6. Buch des Blutes - 6

Titel: Das 6. Buch des Blutes - 6
Autoren: Clive Barker
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Das südliche Querschiff und ein Großteil des anschließenden Mauerwerks wurden von einem Arrangement aus Segeltuch und schwarzen Plastikplanen vor den Blicken der Öffentlichkeit verborgen. Gelegentlich kam jemand hinter diesem Vorhang hervor und beriet sich mit einem der Draußenstehenden. Sie alle, bemerkte Elaine, trugen Handschuhe; einer oder zwei sogar Masken. Es war, als würden sie im Schutze der Trennwand eine Art Ad-hoc-Operation durchführen. Möglicherweise ein Tumor in den Eingeweiden von Allerheiligen.
    Sie näherte sich einem Polizisten. »Was ist denn hier los?«
    »Die Fundamente sind instabil«, sagte er ihr. »Sieht so aus, als könnte das ganze Gebäude jeden Moment einstürzen.«
    »Warum tragen sie Masken?«
    »Nur eine Vorsichtsmaßnahme, wegen des Staubs.«
    Sie widersprach nicht, wenngleich ihr diese Erklärung unwahrscheinlich erschien.
    »Wenn Sie zur Temple Street wollen, müssen Sie hinten herum gehen«, sagte der Polizist.
    Eigentlich wäre sie lieber stehengeblieben und hätte den Arbeiten zugesehen, aber die Anwesenheit des uniformierten Quartetts schüchterte sie ein, daher beschloß sie, aufzugeben und nach Hause zu gehen. Als sie sich auf den Rückweg zur Hauptstraße machen wollte, erblickte sie eine bekannte Gestalt, die das Ende einer Querstraße überquerte. Es war unzweifelhaft Kavanagh. Sie rief ihm nach, obwohl er bereits verschwunden war, und stellte erfreut fest, daß er wieder auftauchte und ihr zunickte.
    »So so…« sagte er, während er ihr entgegeneilte. »Ich hatte nicht damit gerechnet, Sie so schnell wiederzusehen.«
    »Ich wollte mir den Rest der Abrißarbeiten ansehen«, sagte sie.
    Sein Gesicht war von der Kälte gerötet, seine Augen strahlten. »Ich freue mich so«, sagte er. »Möchten Sie einen Tee trinken? Ich kenne ein Restaurant hier um die Ecke.«
    »Sehr gerne.«
    Während sie dorthin schlenderten, fragte sie ihn, ob er wußte, was in der Kirche Allerheiligen vor sich ging.
    »Es ist die Krypta«, sagte er und bestätigte damit ihre Vermutung.
    »Haben sie sie geöffnet?«
    »Sie haben mit Sicherheit einen Weg hinein gefunden. Ich war heute vormittag dort…«
    »Wegen Ihren Steinplatten?«
    »Ganz recht. Da haben sie bereits die Planen hochgezogen.«
    »Manche tragen Masken.«
    »Es dürfte da unten nicht sehr frisch riechen. Nach der langen Zeit.«
    Als sie an den Segeltuchvorhang dachte, der zwischen sie und das Geheimnis im Inneren gezogen worden war, sagte sie:
    »Ich frage mich, wie es ist.«
    »Ein Wunderland«, antwortete Kavanagh.
    Es war eine seltsame Antwort, aber sie hinterfragte sie nicht, jedenfalls nicht sofort. Aber später, als sie beisammensaßen und eine Stunde lang miteinander geredet hatten und als sie sich in seiner Gegenwart unbefangener fühlte, kam sie auf die Bemerkung zurück. »Was Sie über die Krypta gesagt haben …«
    »Ja?«
    »Daß sie ein Wunderland wäre.«
    »Habe ich das gesagt?« antwortete er ein wenig schüchtern.
    »Was müssen Sie von mir denken?«
    »Ich war nur verwirrt. Ich frage mich, was Sie gemeint halben.«
    »Ich mag Stätten, wo die Toten sind«, sagte er. »Schon immer. Friedhöfe können sehr schön sein, finden Sie nicht?
    Mausoleen und Grüfte. Die erlesene Kunstfertigkeit, die für solche Stätten aufgewendet wird. Selbst die Toten belohnen manchmal erhöhte Aufmerksamkeit.« Er sah sie an, ob er die Schwelle des guten Geschmacks bei ihr überschritten hatte, aber als er feststellte, daß sie ihn nur mit stiller Faszination ansah, fuhr er fort. »Ab und zu können sie wunderschön sein. Sie haben eine gewisse Pracht. Jammerschade, daß sie an Leichenbestatter und Bestattungsunternehmer verschwendet wird.« Er grinste kurz und schelmisch.
    »Ich bin sicher, in dieser Krypta gibt es viel zu sehen.
    Seltsame Anblicke. Wunderbare Anblicke.«
    »Ich habe nur einmal einen toten Menschen gesehen. Meine Großmutter. Ich war damals sehr jung…«
    »Ich gehe davon aus, daß es ein einschneidendes Erlebnis gewesen ist.«
    »Ich glaube nicht. Ich kann mich sogar kaum noch daran erinnern. Ich weiß nur noch, daß alle geweint haben.«
    »Ah.« Er nickte weise. »So egoistisch«, sagte er. »Finden Sie nicht auch? Einen Abschied mit Schluchzen und Rotz zu verderben.« Er sah sie wieder an, um ihre Reaktion einzuschätzen, und stellte erneut zufrieden fest, daß sie nicht vor den Kopf gestoßen war. »Wir weinen um uns selbst, ist es nicht so?
    Nicht um die Toten. Die Toten kümmert das nicht mehr.«
    Sie gab
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