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Das 6. Buch des Blutes - 6

Das 6. Buch des Blutes - 6

Titel: Das 6. Buch des Blutes - 6
Autoren: Clive Barker
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zu betrachten. An so einem Ort zu liegen, dachte sie, und das eigene Blut beschämt einen noch. Wenn sie Kavanagh das nächste Mal sah, würde sie ihm erzählen, wie sehr er sich geirrt hatte mit seinen sentimentalen Geschichten von der Ruhe unter dem Boden.
    Sie hatte genug gesehen, mehr als genug. Sie wischte sich die Hände am Mantel ab, suchte sich ihren Weg zurück zur Tür, die sie hinter sich zudrückte, und verknotete das Seil wieder so, wie sie es vorgefunden hatte. Dann kletterte sie den Hang hinauf an die frische Luft. Die Polizisten waren nirgends zu sehen, und sie schlich ungesehen davon, wie der Schatten eines Schattens.
    Sie konnte nichts mehr empfinden, nachdem sie ihren anfänglichen Ekel und den Anflug von Mitleid gemeistert hatte, den sie beim Anblick der Kinder und der Frau mit dem kastanienfarbenen Haar verspürt hatte; und selbst diese Reaktionen – sogar das Mitleid und der Abscheu – waren erträglich. Sie hatte einmal gesehen, wie ein Hund von einem Auto überfahren wurde, und dabei hatte sie beides deutlicher empfunden als in der Gruft von Allerheiligen, trotz der gräßlichen Schaustücke ringsumher. Als sie in dieser Nacht den Kopf zur Ruhe bettete und feststellte, daß sie weder zitterte noch Übelkeit empfand, fühlte sie sich stark. Was gab es in der Welt zu fürchten, wenn das Schauspiel der Sterblichkeit, das sie gerade erlebt hatte, so leicht zu ertragen war? Sie schlief tief und erwachte erfrischt.
    An diesem Morgen ging sie zurück zur Arbeit, entschuldigte sich bei Chimes für ihr Verhalten am Vortag und versicherte ihm, daß sie sich heute so glücklich fühlte wie seit Monaten nicht mehr. Um ihre Rehabilitation zu beweisen, war sie so gesellig wie möglich, begann Unterhaltungen mit sonst kaum beachteten Kollegen und ließ ihr Lächeln bereitwillig erstrahlen.
    Das stieß auf anfänglichen Widerstand; sie konnte spüren, wie ihre Kollegen bezweifelten, daß diese Schwalbe tatsächlich schon den Sommer machte. Aber als sie die Stimmung den ganzen und den nachfolgenden Tag aufrechterhielt, reagierten sie bereitwilliger. Am Donnerstag war es, als wären die Tränen vom Anfang der Woche überhaupt nie vergossen worden. Die Leute sagten ihr, wie gut sie aussah. Es stimmte; ihr Spiegel bestätigte die Gerüchte. Ihre Augen leuchteten, ihre Haut leuchtete. Sie war ein Bild der Lebenskraft.
    Am Donnerstag nachmittag saß sie an ihrem Schreibtisch und arbeitete den Rückstand an Anfragen auf, als eine der Sekretärinnen aus dem Flur hereinkam und zu stammeln anfing. Jemand eilte der Frau zu Hilfe. Dem Schluchzen konnte man entnehmen, daß sie über Bernice sprach, eine Frau, die Elaine gut genug kannte, um ihr auf der Treppe zuzulächeln, aber nicht näher. Anscheinend war es zu einem Unfall gekommen; die Sekretärin erzählte etwas von Blut auf dem Fußboden. Elaine stand auf und ging mit den anderen hinaus, um nachzusehen, weshalb die ganze Aufregung entstanden war.
    Der Vorgesetzte stand bereits vor der Tür zur Damentoilette und bat die Neugierigen vergeblich, doch zurückzubleiben. Jemand anders – anscheinend auch eine Augenzeugin – gab ihre Schilderung der Vorfälle zum besten: »Sie stand einfach da, und plötzlich fing sie an zu zittern. Ich dachte, sie hätte einen Schlaganfall. Blut floß ihr aus der Nase. Dann aus dem Mund.
    Eine Sturzflut.«
    »Es gibt nichts zu sehen«, beharrte Chimes. »Bitte bleiben Sie zurück.« Aber er wurde vollkommen ignoriert. Decken wurden gebracht, um die Frau einzuhüllen, und kaum wurde die Toilettentür wieder geöffnet, drängten die Schaulustigen nach vorne. Elaine erblickte eine Gestalt, die sich wie in Krämpfen auf dem Toilettenboden wand; sie hatte nicht den Wunsch, mehr zu sehen. Sie ließ die anderen im Flur stehen, wo sie sich lautstark über Bernice unterhielten, als wäre sie bereits tot, und ging an ihren Schreibtisch zurück. Sie hatte so viel zu tun, mußte so viele vergeudete Tage der Trauer aufholen. Ein passender Satz ging ihr durch den Kopf. Büßet die Zeit. Sie schrieb sich die drei Worte als Mahnung in ihr Notizbuch. Woher stammten sie? Sie konnte sich nicht erinnern. Einerlei. Manchmal war Vergessen Weisheit.
    Kavanagh rief an diesem Abend an und lud sie für den folgenden zum Essen ein. Sosehr sie auch darauf brannte, sich mit ihm über ihre jüngsten Erlebnisse zu unterhalten, sie mußte ablehnen, weil ein paar ihrer Freunde eine Party gaben, um ihre Genesung zu feiern. Ob er sie begleiten wolle? fragte sie ihn. Er
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