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Das 5. Gebot (German Edition)

Das 5. Gebot (German Edition)

Titel: Das 5. Gebot (German Edition)
Autoren: Nika Lubitsch
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Diesmal träumte sie nicht. Wie oft hatte sie in ihren Träumen diesen Ruf gehört: Ela, Ela! Vicky wischte sich mit ihrem weißen T-Shirt die Tränen ab. Sie musste nach Hause, raus aus diesem Wald. Sie stand auf und folgte den Autogeräuschen. Bei jedem Schritt sank Vicky ein bisschen in den feuchten Waldboden ein, der mit trockenen Eichenblättern übersät war. Endlich sah sie eine schmale Straße, die von einer Siedlung mit spitzgiebligen, steingrauen Reihenhäusern gesäumt wurde. Unschlüssig blieb Vicky stehen. Rechts oder links? Sie wusste absolut nicht, wo sie war. Normalerweise kokettierte Vicky mit ihrem schlechten Orientierungssinn. Sie pflegte zu sagen, dass sie ein Orientierungsvermögen wie Einstein habe: nämlich gar keins.
    Vicky entschied sich für links. In diesem Moment rasten silberblaue Polizeiwagen von beiden Seiten in die schmale Straße. Vicky ging weiter, als habe sie es eilig, nach Hause zu kommen. An der nächsten Querstraße fand sie ein Straßenschild. Quermatenweg. War das nicht die alte Nazi-Siedlung? Schnell weg hier!
    Nach ein paar hundert Metern stieß sie auf eine weitere Querstraße. Als sie auf dem Straßenschild Onkel-Tom-Straße las, war sie ein wenig erleichtert, denn jetzt wusste sie, wo sie war. Der Straßenname war ihr im Gedächtnis geblieben; es gab sogar eine U-Bahn-Station Onkel-Toms-Hütte.
    Vicky versuchte, ihre Panik zu unterdrücken. Sollte sie zur U-Bahn-Station laufen und von dort aus den Bus nehmen? Nein, sie beschloss, zu Fuß nach Hause zu gehen, um sich zu beruhigen. Ihren Wagen, den sie wie jeden Morgen auf dem Parkplatz der Alten Fischerhütte am Schlachtensee geparkt hatte, würde sie später abholen. Ruhig, Vicky, durchatmen!

3. Zehlendorf
     
    Natürlich war George längst weg. Warum hatte sie auch kein Handy mitgenommen? Mit flatternden Händen wählte sie Georges Nummer. „Komm nach Hause, jetzt, bitte!“, schluchzte sie. George fragte nicht nach. Wenn er es einrichten konnte, kam er auf Zuruf. Sie hatten einen Deal. Sobald sie ihre fruchtbaren Zeiten hatte, würde er da sein.
    Mit immer noch zitternden Knien zog Vicky ihre verdreckten Joggingsachen aus und stieg unter die Dusche. Unter dem heißen Wasser schrubbte sie sich die Haut mit einem Luffa-Handschuh, bis sie rot war und brannte. Aber die Erinnerung an das schreckliche Bild im Fenn ließ sich nicht abschrubben. Es war, als habe sie in einen blutbespritzten Spiegel geblickt. Sie griff sich ein riesiges Frotteebadetuch und wickelte sich darin ein. Am liebsten hätte sie sich eine Zigarette angesteckt. Stattdessen ging sie in die Küche und machte sich einen Cappuccino. War sie wirklich erst seit fünf Monaten in Berlin? War es wirklich erst fünf Monate her, dass sie ihren Job als Rechtsanwältin bei der Gesellschaft für Opferschutz in London gekündigt hatte?
    „Was hältst du davon, wenn unser Kind in Berlin aufwachsen würde?“ Diese Frage von George war wie eine Brandbombe aus dem Zweiten Weltkrieg in ihr Leben eingeschlagen.
    „In Deutschland?“, hatte sie entgeistert gesagt. „Bei den Nazis? Bist du verrückt?“
    „Du hast ja gar keine Vorurteile, stimmt’s?“, hatte George lachend geantwortet.
    Dabei waren die Nazis nur ein Vorwand für sie, auch wenn schon ihre Mutter die Deutschen immer „die Hunnen“ genannt hatte und ihr Großvater von den „Hunnen“ abgeschossen worden war.
    Tatsächlich ging es um nichts Geringeres als um ihre gemeinsame Lebensplanung. Vor der Hochzeit vor sieben Jahren waren sich Vicky und George einig gewesen: Sie wollten ein Kind, und in den ersten Jahren würde Victoria sich voll und ganz um den Nachwuchs kümmern und zu Hause bleiben. Ich will mein Kind nicht irgendwelchen schlecht Englisch sprechenden ukrainischen Au-pair-Mädchen oder Sari tragenden Kindergärtnerinnen überlassen, die staatliche Erziehungsnormen abhaken , hatte sie getönt. Was warst du doch schlau, Vicky, dachte sie heute manchmal. Inzwischen war sie siebenunddreißig, hatte einen Beruf, den sie liebte, und konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, Babybrei zu kochen und Windeln zu wechseln. In den letzten Jahren war sie sich zunehmend vorgekommen wie eine tickende Zeitbombe. Sie wusste, dass sie bald zu alt für ein Kind sein würde. Aber es gab so vieles, was sie vorher noch machen wollte. Und dann kam George ausgerechnet mit diesem Job in Berlin. Die Leitung der Niederlassung seines Onkels in Deutschland zu übernehmen, war ein Angebot, das George nicht ausschlagen
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