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Das 5. Gebot (German Edition)

Das 5. Gebot (German Edition)

Titel: Das 5. Gebot (German Edition)
Autoren: Nika Lubitsch
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zu der anderen Gruppe zugehörig, auch wenn die Frauen ihr freundlich zunickten. Man grüßte sich im Berliner Grunewald. Vicky war schmerzlich bewusst, dass sie keine fitnessbewusste Karrierefrau mehr war, aber als hauptberufliche Gattin mochte sie sich auch nicht sehen. Sicher würde das mit einem Baby anders werden.
    Als sie am Ende des Sees auf der schmiedeeisernen Brücke über dem Stichkanal angekommen war, schien es ihr, als hätte sie all die schnaufenden, mehr oder weniger durchtrainierten Frauen weit hinter sich gelassen. Alles, was sie hörte, war das Pochen des Blutes in ihren Ohren, das Rauschen der Silberweiden, das Flirren der Insekten und das Gezwitscher der Vögel, die sich paarten.
    Ein Schrei ließ das Blut und die Vögel verstummen.
    Vicky hatte noch nie in ihrem Leben jemanden so grauenvoll schreien hören. Ohne nachzudenken kehrte sie um, lief in Richtung dieses Schreis, der sich wie Sirenenalarm über das Riemeisterfenn legte, zurück über die Brücke, hinein in die modrig riechende Niederung. Der wabbelige Boden schmatzte unter ihren Joggingschuhen. Eine ältere Frau mit kurzen, roten Haaren rannte ihr entgegen, sie schrie und schrie und schrie, das Gesicht verzerrt und schon ganz rot vom Schreien. Nie würde Victoria den Klang dieser gellenden Schreie vergessen. Das sind Todesschreie, dachte sie, so muss sich Todesangst anhören. Die Frau kam mit panikgeweiteten Augen auf sie zu, fuchtelte mit den Händen, an denen etwas Grünes klebte, und zeigte immer wieder auf eine Stelle weiter hinten neben dem Zaun, der das komplizierte ökologische Gleichgewicht des Fenns vor allzu neugierigen Bewunderern schützte.
    „Handy, um Gottes willen, haben Sie ein Handy, da liegt eine Frau im Gebüsch, Blut, überall Blut, die Polizei, schnell“, schrie die Frau sie keuchend an. Vicky hielt die Frau fest, sie verstand nicht, was sie ihr sagen wollte, denn sie sprach kaum Deutsch. Die Frau riss sich los und rannte weiter, dabei schien sie noch lauter zu schreien als zuvor.
    Victoria lief auf die Stelle zu, auf die die Frau wild gestikulierend gedeutet hatte. Sie bahnte sich ihren Weg durch Holunder und Erlenbruch. Gibt es hier eigentlich Schlangen?, fragte sie sich. Was für ein absurder Gedanke!
    Und dann sah sie sie: Verborgen im Unterholz und versteckt hinter Schneebeerensträuchern ragten seltsam verdrehte Beine hervor, die in weißen Joggingschuhen steckten. Die zerrissenen, grauen Hosenbeine waren voll von geronnenem Blut. Vicky schob mit einer Hand die Zweige eines jungen Ahornbaums zur Seite. Ein trockenes Schluchzen drang aus ihrer Kehle.
    Victoria blickte in ihr eigenes angstverzerrtes, mit blutigen Striemen verunziertes Gesicht, sie sah ihr eigenes braungelocktes, blutverschmiertes Haar. Es waren ihre braunen, schreckgeweiteten Augen, die sie blicklos anstarrten.
    Sie ließ die Zweige zurückschnellen und stolperte wie blind durch das Moor.
    Ela, Ela!, schrie das Kind in ihrem Kopf. Ela ist zu spät gekommen, dachte Vicky.
    Sie fühlte sich schuldig.
    Vicky wusste nicht, wo sie war, sie hatte vollkommen die Orientierung verloren. Ihr Atem ging stoßweise, die Knie zitterten und Tränen rannen ihr über die Wangen. Das langgezogene Tatütata der Martinshörner schien jetzt von überall her zu kommen. Sie sah vor sich das Zucken von Blaulichtern zwischen den kahlen Baumstämmen, irgendwo da vorn musste eine Straße sein. Sie würde nicht zurücklaufen, auf keinen Fall würde sie zurücklaufen, bloß nicht der Polizei in die Arme. Als sie bergauf rannte, hatte sie bald wieder festeren Boden unter den Füßen, dankbar ließ sie sich am Fuß einer hohen Kiefer auf den nadelüberzogenen Waldboden sinken. Sie schlang die Arme um die zitternden Knie, während sie von einem Weinkrampf geschüttelt wurde. Ruhig, Vicky, du hast dir was eingebildet, sagte sie sich. Aber die Augen, die sie in stummem Entsetzen angestarrt hatten, waren ihre eigenen Augen gewesen. Es war, als hätte sie in einen Spiegel geblickt. Es kann nicht sein, redete sie sich ein, die Frau hatte vielleicht eine flüchtige Ähnlichkeit mit mir. Aber tatsächlich wusste Vicky, dass das nicht stimmte. Die Frau war ihr Ebenbild.
    Sie schaute auf ihre völlig verdreckten weißen Laufschuhe; auf dem rechten Schuh hatte sich eine kleine Ameisenexpedition in Marsch gesetzt. Ihr Blick fiel auf ihre mit Modder besprenkelte graue Jogginghose – sie waren sogar fast gleich angezogen. Ela, Ela! Vicky kniff sich in den Arm, nein, sie träumte nicht.
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