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Darwinia

Darwinia

Titel: Darwinia
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hasste.
     

     
    Die Oregon war das erste Schiff, das im kalten Licht der aufgehenden Sonne Cork Harbour erreichte, ohne sich an Küstenlichtern und Markierungen der Fahrrinne orientieren zu können. Kapitän Davies ging in sicherer Entfernung von Great Island [4] vor Anker, da wo die Docks und der geschäftige Hafen von Queenstown lagen – oder hätten liegen müssen.
    Und das war das Unannehmbare. Es gab keine Spur von der Stadt. Der Hafen war unbefestigt. Wo die Straßen von Queenstown hätten sein müssen – wo es von Exporteuren, Lastkränen, Schauerleuten und irischen Auswanderern hätte wimmeln müssen –, da gab es nur wild wuchernden Wald, der sich bis ans Felsufer erstreckte.
    Das war nicht nur unvertretbar, das war unmöglich, und allein der Gedanke bereitete Kapitän Davies Übelkeit und Schwindel. Am liebsten wäre ihm gewesen, der Steuermann hätte sie irrtümlich in eine wilde Bucht manövriert oder sogar zum falschen Kontinent gebracht, doch an den unverkennbaren Konturen der Insel und der typischen, wolkenverhangenen Küste von County Cork war nicht zu rütteln.
    Es war Queenstown und es war Cork Harbor und es war Irland, auch wenn jede Spur menschlicher Zivilisation ausgelöscht oder von Vegetation überwuchert war.
    »Aber das ist nicht möglich«, wandte er sich an Buckley. »Ich sehe es mit eigenen Augen, aber in Halifax liegen Schiffe, die Queenstown erst vor sechs Tagen verlassen haben. Ein Erdbeben, ja, oder eine Flutwelle, die Stadt in Trümmern… aber das!«
    Davies war die ganze Nacht über bei seinem Ersten Offizier auf der Brücke geblieben. Das Verstummen der Maschinen trieb die Passagiere erneut an die Reling. Sie würden fragen ohne Ende. Doch es gab keine Antworten. Davies hatte nichts zu bieten, keine Erklärung, keine Vermutung, keinen Trost, nicht einmal eine beschwichtigende Lüge. Aus Nordosten war ein feuchter Wind aufgefrischt. Kälte würde die Neugierigen bald wieder unter Deck treiben. Vielleicht fand Davies beim Dinner ein paar beschwichtigende Worte. Aber welche?
    »Und so grün«, sagte er, unfähig, diese Gedanken im Keim zu ersticken oder zu verdrängen. »Viel zu grün für diese Jahreszeit. Was für Pflanzen schießen im März aus dem Boden und verschlingen eine irische Stadt?«
    »Das ist unnatürlich«, stammelte Buckley.
    Die beiden Männer sahen einander an. Die Schlussfolgerung des Ersten Maats war so offensichtlich und aufrichtig, dass Davies ein Lachen unterdrückte. Er zwang sich zu einem Lächeln, das den anderen beruhigen sollte. »Morgen schicken wir einen Landungstrupp, um die Uferlinie zu erkunden, mal sehen. Bis dahin sollten wir keine Hypothesen aufstellen… damit sind wir überfordert.«
    Buckley versuchte, das Lächeln zu erwidern. »Es werden noch weitere Schiffe kommen…«
    »Und dann wissen wir, dass wir nicht übergeschnappt sind?«
    »Nun ja, Sir. So kann man es auch sehen.«
    »Bis dahin wollen wir die Augen offen halten. Sagen Sie dem Funker, er soll sich jedes Wort zweimal überlegen. Die Welt wird es noch früh genug erfahren.«
    Sie starrten ein Weilchen in das kalte Grau des Morgens. Ein Steward brachte zwei Becher mit dampfendem Kaffee.
    »Sir«, wagte Buckley sich vor. »Die Kohle, die wir an Bord haben, reicht niemals bis New York.«
    »Dann bis zum nächstbesten Hafen…«
    »Falls es hier noch welche gibt.«
    Davies hob die Augenbrauen. Der Gedanke war ihm noch gar nicht gekommen. Vielleicht gab es Gedanken, die einfach mehr Platz brauchten als ein menschliches Hirn zu bieten hatte.
    Er straffte die Schultern. »Wir sind ein White Star Schiff, Mr. Buckley. Selbst wenn Amerika Kohlenschiffe schicken müsste, man würde uns nie im Stich lassen.«
    »Jawohl, Sir.« Buckley, ein junger Mann, der einst den Fehler begangen hatte, Theologie zu studieren, bedachte den Kapitän mit einem traurigen Blick. »Sir… ob das hier ein Wunder ist?«
    »Eher eine Tragödie, würde ich sagen. Vor allem für die Iren.«
     

     
    Rafe Buckley glaubte an Wunder. Er war Sohn eines Methodistenpfarrers und mit Moses und dem brennenden Dornbusch aufgewachsen, mit Lazarus, dem vom Tode erweckten, und der Vermehrung von Brot und Fisch. Trotzdem, er hatte nie damit gerechnet, mit eigenen Augen ein Wunder zu erleben. Wunder und Gespenstergeschichten bereiteten ihm Unbehagen. Er fand es besser, wenn seine Wunder zwischen den Deckeln der King James Bibel blieben, von der ein Exemplar (sträflich vernachlässigt) in seiner Kabine lag.
    Mitten in einem Wunder
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