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Darwinia

Darwinia

Titel: Darwinia
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dachte Vale.
    Sie nennt mich nicht mit Namen, aber sie weiß, für wen ich mich insgeheim halte.
    Die Elektrizität klappte ihm die Lider auf. Unfreiwillig und voller Furcht sah er die Gottheit über sich stehen. Die Gottheit war monströs. Sie war hässlich, uralt, der insektenartige Leib von durchscheinendem Grün, der Regen troff durch sie hindurch. Die Gottheit stank, der Geruch erinnerte an eine Mischung aus Farbverdünner und Kreosot.
    Wie sollte er zusammenfassen, was er in jener Nacht erfahren hatte? Es war unbeschreiblich, unsäglich; er konnte sich kaum überwinden, es mit Sprache zu besudeln.
    Dennoch, wenn es denn sein musste, würde er vielleicht sagen:
    Ich erfuhr, dass mein Leben einen Zweck hat.
    Ich erfuhr, dass ich eine Bestimmung habe.
    Ich erfuhr, dass ich auserwählt bin.
    Ich erfuhr, dass es mehrere Gottheiten gibt und dass sie mich kennen.
    Ich erfuhr, dass es eine Welt unter der Welt gibt.
    Ich erfuhr, dass ich mächtige Freunde habe.
    Ich erfuhr, dass ich Geduld haben muss.
    Ich erfuhr, dass ich für meine Geduld belohnt werde.
    Und ich erfuhr – dies vor allem – dass ich vielleicht nicht zu sterben brauche.
     

     
    »Sie haben ein Dienstmädchen«, sagte Vale. »Eine Negerin.«
    Mrs. Sanders-Moss saß kerzengerade, die Augen geweitet, wie ein Schulmädchen, das von einem autoritären Lehrer aufgerufen wird. »Ja. Olivia… sie heißt Olivia.«
    Er wusste nicht, dass oder was er sprach. Er hatte sich einer anderen unsichtbaren Existenz ausgeliefert. Ihm kam die gummiartige Peristaltik von Lippen und Zunge wie etwas Fremdes und Abstoßendes vor, als sei ihm eine Nacktschnecke in den Mund gekrochen.
    »Sie ist schon lange bei Ihnen – diese Olivia.«
    »Ja; sehr lange schon.«
    »Sie war schon bei Ihnen, als Ihre Tochter geboren wurde.«
    »Ja.«
    »Und sie hat sich um das Mädchen gekümmert.«
    »Ja.«
    »Und geweint, als das Mädchen starb.«
    »Wir haben alle geweint. Alle.«
    »Aber Olivia hegte tiefere Gefühle.«
    »Wirklich?«
    »Sie kennt das Kästchen. Die Haarlocke, das Taufkleidchen.«
    »Ganz bestimmt. Aber…«
    »Sie haben es unter Ihrem Bett verwahrt.«
    »Ja!«
    »Olivia macht sauber unter dem Bett. Sie merkt, ob Sie das Kästchen geöffnet haben. Sie erkennt es an den Spuren in der Staubschicht. Sie achtet auf Staub.«
    »Schon möglich, aber…«
    »Sie haben das Kästchen schon lange nicht mehr berührt. Es ist über ein Jahr her.«
    Mrs. Sanders-Moss schlug den Blick nieder. »Aber ich habe an Emily gedacht. Ich habe sie nicht vergessen.«
    »Für Olivia ist dieses Kästchen wie ein Schrein. Sie verehrt es. Sie macht es auf, wenn Sie nicht da sind. Sie passt auf, dass der Staub sie nicht verrät. Sie betrachtet es als ihr Eigentum.«
    »Olivia…«
    »Sie findet, dass Sie Emily vernachlässigen.«
    »Das ist nicht wahr!«
    »Aber sie glaubt das.«
    »Olivia hat das Kästchen an sich genommen?«
    »Kein Diebstahl, so wie sie es sieht.«
    »Bitte – Dr. Vale – wo ist das Kästchen? Ist es in Sicherheit?«
    »Ganz und gar.«
    »Wo?«
    »Im Zimmer des Mädchens, hinter einem Schrank.« (Einen Moment lang sah Vale es vor seinem geistigen Auge, das hölzerne Kästchen sah aus wie ein winziger in uralte Leinenwäsche gewickelter Sarg. Vale roch Kampfer und Staub und einsamen Schmerz.)
    »Ich habe ihr vertraut!«
    »Sie hat Emily geliebt, Mrs. Sanders-Moss. Sehr sogar.« Vale holte tief und stockend Luft; kam allmählich wieder zu sich, die Gottheit zog sich in die Welt unter der Welt zurück. Die Erleichterung war köstlich. »Holen Sie sich, was Ihnen gehört. Aber seien Sie bitte nicht zu streng zu ihr.«
    Mrs. Sanders-Moss blickte ihn an, ihre Miene zeugte von einer erfreulichen Portion Ehrfurcht.
     

     
    Sie dankte ihm überschwänglich. Ein Honorar wies er zurück. Ihr zögerndes Lächeln und ihre in den Grundfesten erschütterte Haltung waren ermutigend und wirklich sehr vielversprechend. Aber man wusste natürlich nie…
    Als sie samt ihrem Schirm gegangen war, öffnete er eine Flasche Brandy und zog sich damit ins Obergeschoss zurück. Der Regen prasselte ans überfrorene Fenster, die Gaslampen waren voll aufgedreht und das einzige Buch im Zimmer war ein ramponierter Schundroman, His Mistress’ Petticoat.
    Seiner äußeren Erscheinung war kaum anzumerken, was die Manifestation der Gottheit in ihm angerichtet hatte. Innerlich war er erschöpft, beinahe verletzt. Es tat nicht wirklich weh, aber er war wund – bis in die Finger- und Zehenspitzen. Die Augen
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