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Darwinia

Darwinia

Titel: Darwinia
Autoren: authors_sort
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wo sie gestorben waren.
    Selbstverständlich war es verpönt zu sagen, das Wunder habe jemanden umgebracht: Die Menschen waren ›heimgeholt‹ worden, oder sie waren ›heimgegangen‹, als seien sie von einem Augenblick auf den anderen in die Ewige Glückseligkeit entrückt worden. Wer weiß, dachte Guilford. Vielleicht war es ihnen tatsächlich so ergangen. Fest stand, dass etliche Millionen Menschen einfach von der Bildfläche verschwunden waren, zusammen mit ihren Gehöften und Städten und ihrer Flora und Fauna, und Caroline fand nichts Versöhnliches an dem Wunder; sie fand es grausam.
    Es war schon ein komisches Gefühl, der Einzige an Bord der Odense zu sein, der Frau und Kind im Schlepptau hatte; aber bisher hatte es keine Anspielungen gegeben und Lily hatte schon ein paar Herzen erobert. Warum war er nicht einfach glücklich?
     

     
    Nach dem Dinner ging man auseinander: Der Schiffsarzt verdrückte sich, um einem Flachmann mit kanadischem Roggenwhisky zuzusprechen, die Wissenschaftler trieb es in den Rauchersalon, um über zerschlissenen Filztischen Karten zu spielen, Guilford suchte seine Kajüte auf, um Lily ein Kapitel aus einem guten amerikanischen Märchen vorzulesen, The Land of Oz. Die Oz- Bücher waren allgegenwärtig, seit die Gebrüder Grimm und Andersen in Ungnade gefallen waren, weil sie den Nachgeschmack von Old Europe hatten. Lily hatte gottlob keine Ahnung, dass Bücher etwas mit Politik zu tun hatten. Sie liebte Dorothy ganz einfach. Inzwischen hatte auch Guilford das Mädchen aus Kansas liebgewonnen.
    Schließlich legte Lily den Kopf zurück und machte die Augen zu. Während er zusah, wie sie schlief, bekam Guilford plötzlich Gewissensbisse. Es war schon komisch, wie das Leben alles durcheinanderbrachte. Wie kam er nur dazu, an Bord eines Dampfschiffes zu sein, das nach Europa fuhr? Vielleicht hatte er sich doch nicht richtig entschieden.
    Aber es gab kein Zurück mehr.
    Er breitete die Decke über Lilys Koje, drehte das Licht aus und legte sich zu Caroline ins Bett. Caroline schlief, ihr Rücken ein einziger Bogen menschlicher Wärme. Er kuschelte sich an und ließ sich vom Wummern der Maschinen einlullen.
     

     
    Kurz nach Sonnenaufgang wachte er unruhig auf; zog sich an und schlüpfte aus der Kajüte, ohne seine Frau oder Lily zu wecken.
    Die Luft an Deck war rau, der Morgenhimmel blau wie Porzellan. Nur ein paar hohe Wolkenkritzel am östlichen Horizont. Guilford lehnte sich in den Wind und dachte an nichts Besonderes, als ein junger Offizier zu ihm an die Reling kam. Der Seemann verriet weder Rang noch Namen, er lächelte bloß, die beiläufige Kameraderie zwischen zwei Männern, die sich in bitterkalter Frühe begegneten.
    Sie starrten in den Himmel. Nach einer Weile wandte der Seemann den Kopf und sagte: »Es ist nicht mehr weit. Der Wind trägt den Geruch.«
    Guilford zog eine krause Stirn und erwartete die nächste große Geschichte. »Welchen Geruch?«
    Der Seemann war Amerikaner; die träge Aussprache erzählte vom Mississippi. »Ein bisschen wie Zimt. Ein bisschen wie Wintergrün. Ein bisschen wie etwas, das man noch nie gerochen hat. Wie ein staubiges altes Gewürz aus einer Gegend, in die noch kein Weißer den Fuß gesetzt hat. Man riecht es besser, wenn man die Augen schließt.«
    Guilford schloss die Augen. Er gewahrte die eisige Kälte der Luft, als er sie in die Nase sog. Ein kleines Wunder, wenn man bei dem Wind überhaupt etwas roch. Und dennoch…
    Gewürznelke, fragte er sich. Kardamom? Weihrauch?
    »Was ist das?«
    »Die neue Welt, mein Lieber. Jeder Baum, jeder Fluss, jeder Berg, jedes Tal. Der ganze Kontinent reist mit dem Wind über den Ozean. Riechen Sie ihn?«
    Guilford glaubte ihn zu riechen.

 
Kapitel Zwei
     
     
     
    Eleanor Sanders-Moss entsprach genau den Erwartungen von Elias Vale: eine dralle Aristokratin aus dem Süden, die die besten Jahre hinter sich hatte, Wirbelsäule kerzengrade, Kinn hoch, der Regen troff vom seidenen Schirm, Würde besiedelte die Ruinen der Jugend. Sie stieg aus einem Hansom, [13] der am Rinnstein stand: Offenbar war die Renaissance des Automobils an Mrs. Sanders-Moss vorübergegangen. Die Jahre waren es nicht. Sie litt an Krähenfüßchen und Argwohn. Die Falten waren nicht mehr zu vertuschen; den Argwohn zu verbergen, war sie sichtlich bemüht.
    Sie sagte: »Elias Vale?«
    Er lächelte, erwiderte ihre Reserviertheit, focht um einen Vorteil. Jede Pause eine Waffe. Darin war er gut. »Mrs. Sanders-Moss«, sagte er.
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