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Darwinia

Darwinia

Titel: Darwinia
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Hand?«
    Mrs. Sanders-Moss langte vorsichtig über den Tisch. Ihre Hand war schmal und kühl, und er umschloss sie mit seinem breiteren, festeren Griff.
    Ihre Blicke begegneten sich.
    »Sollten Sie etwas sehen oder hören, erschrecken Sie nicht.«
    »Sprachrohre etwa?«
    »Nichts Vulgäres. Wir sind nicht auf dem Jahrmarkt.«
    »Ich wollte Sie nicht…«
    »Schon gut. Und vergessen Sie nicht, Sie müssen Geduld haben. Die Verbindung mit der anderen Welt braucht ihre Zeit.«
    »Ich habe keine weiteren Termine, Mr. Vale.«
    Jetzt waren die Vorbereitungen getroffen und er brauchte sich nur noch zu konzentrieren und zu warten, dass aus seinem tiefsten Inneren die Gottheit stieg – aus dem, was die indischen Mystiker die ›niederen Chakras‹ nannten. Er tat es nicht eben gerne. Es war immer wieder eine schmerzliche, demütigende Erfahrung.
    Alles hatte seinen Preis, dachte Vale.
     

     
    Die Gottheit: Er allein konnte sie sprechen hören (es sei denn, er verlieh ihr seine eigene, rein körperliche Stimme); und wenn die Gottheit sprach, konnte er nichts anderes hören. Zum ersten Mal hatte er sie im August 1914 gehört.
    Vor dem Wunder hatte er sein Brot mit einer Wanderschau verdient. Vale und zwei Partner befuhren mit einer mumifizierten Leiche das Hinterland – einer Leiche, die sie an der Hintertür einer Leichenhalle in Racine erstanden hatten und als den Leichnam von John Wilkes Booth [15] ausgaben. Das beste Geschäft machten sie in diesen gottverlassenen Nestern, in die nie ein Zirkus kam, abseits der Eisenbahn, wo es meilenweit nichts als Baumwolle, Weizen oder Kentucky-Hanf gab. Vale war zufrieden, er war der Anpreiser und Scharfmacher. Seine Stärke war das Wort. Doch das Wunder machte kurzen Prozess mit einem Gewerbe, das ohnehin in den letzten Zügen lag. Die ländlichen Einkommen stürzten ab; und wer noch ein bisschen Taschengeld hatte, wollte sich nicht von seinen Pennies trennen, nur um einen Blick auf den ledrigen Leichnam eines Attentäters zu werfen. Der Bürgerkrieg war die Apokalypse einer anderen Generation. Die jetzige hatte ihre eigene. Vales Partner setzten Mr. Booth in einem Kornfeld in Iowa aus.
    In der sengenden Augusthitze jenes Jahres war Vale selbständig und pilgerte mit einem abgewetzten Musterkoffer voller Bibeln von Haus zu Haus; nicht selten reiste er im geschlossenen Güterwaggon. Zweimal wurde er von Räubern attackiert. Er hatte sich gewehrt, konnte seine Bibeln retten, büßte aber seinen Vorrat an sauberen Stehkragen ein und einseitig einen Teil seiner Sehkraft; das Grün der Iris trübte ein, nur leicht, aber endgültig (aber auch das zahlte sich aus).
    Seine Füße hatten an jenem Tag schon eine Menge hinter sich. Es war ein heißer Ohio-Valley-Tag. Die Luft war feucht, der Himmel weiß getüncht, das Geschäft flau. Im Olympia Diner (in irgendeiner namenlosen Stadt, wo der Fluss sich wie träger Rauch nach Westen schlängelt), da behauptete die Kellnerin, sie höre es donnern. Vale gab sein letztes Geld für ein Chicken-and-Gravy Sandwich aus und machte sich auf die Suche nach einem Plätzchen für die Nacht.
    Nach Sonnenuntergang fand er am Rand der Stadt eine verlassene Ziegelei. Die Luft in dem riesigen Gebäude war stickig und feucht, es roch nach Moder und Maschinenöl. Die Dunkelheit machte aus herrenlosen Brennöfen schuppige Götzenbilder. Ganz oben im Strebwerk, wo er sich sicher wähnte, richtete er sich ein, zerrte eine fleckige Matratze von der Müllhalde und legte sich schlafen. Doch er fand keinen Schlaf. Obwohl ein Nachtwind durch die leeren Rahmen der Fabrikfenster strich, blieb die Luft stickig und heiß. Später, viel später, setzte Regen ein. Er lauschte dem Rinnen und Tröpfeln aus unzähligen Rissen und Spalten, das sich am schmutzstarrenden Boden sammelte. Erosion, dachte er, die Löcher in Eisen und Stein bohrt.
    Vielleicht eine Stunde nach Mitternacht meldete sich unversehens die Stimme – noch nicht die eigentliche Stimme, aber ihre Bugwelle, wie Donnerrollen.
    Sie fesselte ihn ans Lager. Er konnte sich buchstäblich nicht rühren. Als ob ihn ein gewaltiges Gewicht niederdrücke, aber das Gewicht war elektrisch, durchpulste ihn, sprühte Funken aus seinen Fingerspitzen. Er fragte sich, ob ihn ein Blitz getroffen hatte. Musste er jetzt sterben?
    Dann sprach die Stimme, und sie sprach keine Worte, sondern Bedeutungen oder Sinn; die entsprechenden Worte, so er sie versuchsweise absteckte, blieben eine farblose Annäherung. Sie weiß, wer ich bin,
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