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"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)

"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)

Titel: "Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
Autoren: Christian Frommert , Jens Clasen
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den Magen« bekommt da eine ganz andere Bedeutung. Beim Magersüchtigen geht da nicht viel durch den Magen.
    Wie gesagt: kompliziert.
    Oder einfach: Mit Mama hat alles angefangen.
    Ich stehe zur Zeit recht fassungslos und gelähmt vor dieser Antwort auf die Frage der Fragen. Diese Antwort ist ein riesiger, wichtiger Schritt, aber noch lange nicht die Lösung aller Probleme. Ich stehe davor, kann sie befühlen – aber immer noch bin ich mehr mit den Folgen als der Ursache befasst.
    Ich versuche es so oft wie möglich zu denken: Nun ist also Mutter der Schlüssel. Um mich daran zu gewöhnen.
    Es freut und ängstigt mich – wie so vieles – zugleich. Es ist wie Verrat an meiner Liebe zu Mutter, über so etwas mit meiner Therapeutin zu sprechen und mich mit ihr zu freuen, wenn sie von einem Erfolg redet. Aber ich finde auch so viel Wahrheit in dem, was sie über mich und meine Beziehung zu Mutter sagt.
    Wenn ich ihr zuhöre, ahne ich eine Antwort auf meine drängendste Frage: Warum ich? Ich höre sie so deutlich, dass ich mir die Ohren zuhalten möchte.
    Ich war immer das Ein und Alles für meine Mutter. Aber eben ganz deutlich IHR Ein und Alles. Das machte sie durch ihr Verhalten stets klar. »Du bist MEIN Sohn.« Und darum verlangte sie auch alles von mir, allzeitige Bereitschaft, stete Dienstbarkeit, absolute Perfektion. Immer.
    Und ich lieferte. Immer.
    Jetzt will ich etwas geliefert bekommen, und es kommt langsam, ganz langsam.
    Frau Reich-Soufflet sagte zuletzt, jeder Mensch habe für gewöhnlich einen anderen Menschen, der seine Hoffnung für ihn trägt. Ich bin jemand, der fast wie ein Paketdienst vieler Menschen Hoffnung trug. Nur meine eigene nicht. Und alle, die ich mir ausgesucht habe, um meine Hoffnung zu tragen, die wollen es nicht: Mutter, Gabi, andere Frauen. Das soll nun besser werden.
    Vielleicht sehe ich ja auf aktuellen Fotos für Sie immer noch nicht ganz normalgewichtig aus. Vielleicht denken Sie: Himmel, der ist ja immer noch so spindelklapperdürr! Aber glauben Sie mir: Ich bin einige Kilogramm von dem Tiefpunkt am Fuße der Treppe zum Pluto entfernt. Und was viel wichtiger ist: Ich habe jetzt ein paar Dinge kapiert. Zuerst, ganz wichtig: Ich muss es selbst schaffen. Immerhin diese Erkenntnis habe ich gewonnen. Diese Verantwortung kann mir keiner abnehmen. Ich muss leben, und mich nicht »leben lassen«. Nicht von der Arbeit, nicht von Freunden, nicht von Frauen. Nicht von meiner Mutter.
    Ich kämpfe mit Mut gegen die Verzweiflung. Frau Reich-Soufflet sagt, es ist so unendlich viel leichter, in der Krankheit zu bleiben, sich der Anorexia zu ergeben, als dagegen aufzustehen. Ich sei nun in der schwierigsten Phase. Ich würde nun spüren, wie wieder Leben in mich kommt. Dagegen rebelliert die alte Macht, Anna zerrt und zieht an mir, sie schreit und zetert: »Weg vom Kühlschrank, Moppelsack!!« Und ich bin oft stark versucht, ihr zu gehorchen, immer noch zu oft gebe ich ihr nach. Es ist diese Sehnsucht nach Kontrolle, die mich schwach werden lässt. Ich bin zwar nicht mehr so mager, süchtig nach der Zeit mit Anna bin ich aber noch.
    Meine Therapeutin sagt auch, dass es gut sei, dass mich gerade wieder viele Zwänge packen: Noch früher raus, noch mehr Sport, noch mehr in einen Tag packen, dafür einen Löffel weniger essen. Das soll gut sein? Es klingt verrückt – aber das, sagt sie, seien Rituale, die mir helfen, weiter aus der Sucht zu kommen, weil ich mich daran noch klammern kann, dadurch werde ich weiter herausgezogen. Meine Krücken für den Alltag.
    Durch Annas Waffen Annas Griff entwunden.
    Ich bin dankbar für diese Einschätzung, weil sie mich ein wenig beruhigt. Aber die Beunruhigung kehrt immer wieder. Ich weiß einfach: So kann es nicht weitergehen. Diese Rituale, diese ganze Palette von ritualisierten Zwängen – das muss aufhören. Ich will wieder Sport treiben, weil ich Spaß daran habe, und nicht, weil mich eine innere Stimme im Morgengrauen auf das Ergometer treibt, um unnötige Gramm abzustrampeln, die gar nicht vorhanden sind! Ich will essen, weil es mir schmeckt, und nicht aus einem Gefühl der Verpflichtung heraus, nicht weil ich sonst verhungere. Vor allem will ich genießen, was ich esse, und es nicht auf die Kalorie genau untersuchen. Ich will leben, weil ich es kann und darf, und nicht, weil ich es zu müssen glaube.
    Die Stunden bei Frau Reich-Soufflet sind auf meinem suchenden und tastenden Weg ein echter Halt und geben mir immer ganz viel Hoffnung. Ich fühle mich
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