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"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)

"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)

Titel: "Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
Autoren: Christian Frommert , Jens Clasen
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mein Wille also stärker gewesen als das Körperchen, auf dem ein voller Kopf saß. Und an dem diese dünnen Ärmchen hingen, die gerade damit beschäftigt waren, Einkaufstüten zu schleppen, vollgestopft mit Waren für den monatlichen Gebrauch. Knapp zwei Wochen war ich in Vancouver, das für mich eigentlich nur der Name eines weiteren meiner Burgzimmer war. Ich hamsterte die Ware, als würde in Kanada morgen eine Ausgangssperre verhängt. Ich richtete mir alles so ein wie zu Hause, auf Pluto. Und auf einige wirkte ich sicher auch wie ein Außerirdischer. Stakkatohafte Bewegungen, vermummt, eingepackt. In den vielen Pullis und Jacken sah ich aus wie das Michelin-Männchen. Der Hügel, an dessen Fuß der Supermarkt lag, musste auf dem Rückweg wieder erklommen werden. Es war für mich jedes Mal so, als müsste ich den Gipfel des Mount Logan besteigen, den mit 5959 Metern höchsten Berg dieses Riesenlandes. Und dann verschwand ich in meinem Basislager, diesem zweitklassigen Apart-Hotel. Ich bereitete mein Menü, packte mich ein und guckte Olympia im TV. Bibbernd vor Kälte, nicht vor Anspannung. Die dicke Decke lastete schwer auf meinem Körper. Zu wärmen vermochte sie mich nicht. Mich fror von innen, immer.
    Ich hatte mir die Entscheidung herzufahren nicht leichtgemacht. Früher hätte ich alles gegeben für die Möglichkeit, in meine Traumstadt zu fliegen und sogar noch Geld dafür zu bekommen. Noch dazu während der Olympischen Spiele. Eine Stadt im Einnahmezustand. Doch das war früher, als ich noch alleine lebte. Jetzt hatte ich diese feste Partnerschaft mit Anna.
    Und so habe ich wochenlang mit mir gerungen. Eigentlich war ich überzeugt davon, dass nichts daraus werden würde. Meine Unsicherheit haben die Veranstalter zu spüren bekommen, weil ich mir lange eine Hintertür offenließ. Eher ein stets sperrangelweit offen stehendes Tor, das sich erst gar nicht lohnte zu schließen. Lag hinter ihm doch meine beinahe täglich benutzte Route, mein Fluchtweg.
    Es war ein klassisches Ämter-Verhalten: Abstimmen, Einladung, Zusagen, Beteuern, Hinauszögern, Aussitzen, Zurückrudern, Absagen. Schließlich der Kompromiss: Drei Wochen dauerten die Spiele, ich fuhr für zwölf Tage hin. Das Ergebnis lag somit zwischen Christians Wunschdenken und Annas Willenskraft. Ich hatte ständig Bedenken, hatte Panik, wusste nicht, wie ich das alles managen sollte. Man lässt seine Zwänge nicht so einfach zu Hause. Sie zwängten sich in mein Reisegepäck, machten den Ballast, den ich mit mir Richtung Nordwesten schleppte, noch schwerer. Und dann diese vielen Kontakte, diese Abendveranstaltungen, diese Menschen. Ich fühlte mich schon jetzt durchschaut.
    Daran, dass ich flog, war diese Pflicht schuld. Ich musste. Ich war verantwortlich. Nicht fliegen heißt nicht funktionieren. Nicht funktionieren geht nicht. Also flog ich und redete mir ein, dass ich »das schon hinbekommen werde«. Drei Tage vor Abflug bekam ich zwar noch einmal kalte Füße, noch kälter, als sie ohnehin waren. Wieder kroch die Panik in mir hoch. Wie sollte ich in diesem Übermaß an Reizen meinen Mangel verwalten, wie den sich vor Essen biegenden Buffettischen entgehen?
    Ich dachte schon bei der Ankunft: Das werden anstrengende Tage. Und sie wurden es auch. Ich fror rund zwei Wochen lang, hatte dicke Füße und auch ansonsten strengte mich alles an. Es gab Tage, da war es besonders schlecht. Alles in allem hatte ich sicher schon bessere Ideen, als nach Vancouver zu gehen, aber ich wollte mir das nicht entgehen lassen. Dabei entging mir alles, weshalb ich gekommen war. Die Olympischen Spiele 2010 fanden für mich im Fernseher meines Hotelzimmers statt. Immer wieder ging es mir auch hier wieder durch den Kopf: Warum machst du das? Für wen? Wie lange soll das denn noch so gehen? Genieße die Zeit hier doch endlich. Da war ich fast zwei Wochen in meiner Traumstadt und konnte nichts machen. Gar nichts. Und mein Hirn hatte einfach keine Antworten für mich, keine, die die Minuten überdauerten, und schon gar keine, die eine nachhaltige Änderung auszulösen vermochten.
    Alles war eine Qual, ein Absitzen von Zeit in der Hoffnung, bald wieder zu Hause sein zu können, um alles so zu machen wie immer: (wenig) Essen, Sport, Arbeit. Alles war an seinem Platz. Der Alltag, so schwer er auch war, hatte eine Art Leichtigkeit.
    Es war schon übel losgegangen. Wegen des angekündigten Pilotenstreiks musste ich schon früher fliegen. Alles wurde hektisch. Hektik und Eile
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