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Dann fressen ihn die Raben

Dann fressen ihn die Raben

Titel: Dann fressen ihn die Raben
Autoren: David Meinke
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Hände ruhten gefaltet auf seinem Schreibtisch. Sein Büro war ein gläserner Käfig, damit alle sehen konnten, was darin vor sich ging. Sein Schreibtisch war aus Mahagoni. Es lag eine grüne Schreibtischunterlage darauf. Ein Blatt Papier. Ein maskuliner Füller. Und das war alles.
    „Tja Nick, jetzt wird es langsam ernst.“ Er streckte sich, verschränkte seine Hände über dem Kopf und bog die Handflächen nach außen, sodass die Fingerknochen knackten.
    „Deine unentschuldigten Fehlzeiten liegen inzwischen bei vierzehn Prozent – und bei den schriftlichen Prüfungen hast du zwölf Prozent der Zeit gefehlt. Das war der Stand, als ich dich zu diesem Gespräch einbestellt habe. Das ist eindeutig zu viel – und da du auch nach meiner Einladung weiter geschwänzt hast, werde ich dir eine schriftliche Verwarnung schicken, wenn du von heute an auch nur eine einzige Stunde unentschuldigt fehlst. Ist das klar?“
    Ich nickte. Ich hatte in meinem Leben schon viele solcher Gespräche über mich ergehen lassen, also war ich darin geübt, aufmerksam auszusehen, ohne richtig zuzuhören.
    „Hast du zu Hause Probleme oder etwas in der Richtung?“
    „Nein, also nicht so direkt …“, antwortete ich und ahnte die Möglichkeit, mir ein paar Sympathiepunkte einzuheimsen. „Es ist nichts, was … Macht das denn einen Unterschied?“
    „Prinzipiell natürlich nicht. Aber es wäre immerhin eine Erklärung. Jetzt hör mir mal gut zu. Deine Lehrer sagen, du seist faul, aber nicht dumm. Auf diesem Gymnasium reicht es aber nicht aus, lediglich nicht dumm zu sein. Du musst auch etwas tun. Und selbst wenn ich deinem Talent damit unrecht tue, werde ich dich hier nicht weiter dulden, wenn du den Verpflichtungen nicht nachkommst, die du auf dem Gymnasium nun mal definitiv hast.“
    „Verstanden“, sagte ich ernst. Und kam noch einmal davon.
    „Bist du rausgeflogen?“, flüsterte Mateus, als ich wieder in die Klasse zurückkehrte.
    „Nein, natürlich nicht. Es war nur eine mündliche Verwarnung.“
    „Cool!“
    Ich war soeben in das Fach „Allgemeine Studienvorbereitung“ hereingeplatzt, und gerade erklärte irgendein Lehrer, den ich noch nie gesehen hatte, wie wir unser Projekt aufbauen sollten. Liv saß mir im Hufeisen gegenüber. Ich erschrak fast, als ich sie sah. Sie lächelte. Teufel auch. Am liebsten hätte ich mich sofort wieder verdrückt.
    Nach der Stunde kam sie zu mir.
    „Morgen“, sagte sie, „kommst du um drei zu mir. Vorher warst du in der Bibliothek und hast dir Bücher zum Thema Selbstjustiz ausgeliehen. Und zwar welche, die dicker sind als Pixibücher. Verstanden?“
    „Na klar“, antwortete ich.
    „Ich gehe heute Nachmittag schon in die Bib. Willst du mit?“
    „Mist, das geht leider nicht. Meine Mutter und Henrik wollen irgendeinen dämlichen Familienrat abhalten.“
    „Deine Mutter?“ Meine Mutter hatte den Ruf, eine coole Mutter zu sein, weil sie schicke Klamotten trug, Essen zum Mitnehmen bestellte und wir bei ihr tun und lassen konnten, was wir wollten.
    „Jepp.“
    „War das die Idee von diesem Henrik?“
    „Jepp. Guten Appetit!“ Liv schob sich gerade ein Stück Apfelsine in den Mund. Dabei fielen ihr die Haarsträhnen vor die Augen, und die Apfelsine tropfte auf ihre Hand.
    „Worüber haltet ihr denn Familienrat?“, fragte sie.
    „Keine Ahnung. Ich habe selber schon darüber gerätselt.“
    „Bestimmt wollen sie heiraten!“, mischte sich Mateus ein. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht.
    „Henrik und meine Mutter?“ Wie ekelhaft. Vor meinem inneren Auge tauchten erneut Bilder von meiner stöhnenden Mutter beim Orgasmus auf. Goddammit!
    „Aber Nick – dann morgen. Samstagnachmittag. Um drei. Und wenn du nicht kommst, werd ich zum Elch!“
    Ich werd zum Elch. Ein Henrik-Satz. Verdammte Scheiße!
    Zum Glück verlief der Rest des Tages ziemlich unspektakulär. In jeder beschissenen neuen Unterrichtsstunde war ich gespannt, ob wir irgendwas hätten abgeben müssen. Ich hatte völlig den Überblick verloren. Und ich erweiterte in jeder Stunde die Liste mit den Aufgaben, die ich noch erledigen musste. Ich stellte mir vor, wie ich mich am Wochenende mit meinem Laptop an den Küchentisch setzte und alles in Angriff nahm. Ich rief mir das Gefühl von Stolz und Erleichterung, das man nach einer Abgabe hatte, in Erinnerung. Aber ich wusste auch, dass all das sofort vergessen wäre, sobald die Schule am Freitag aus war. Und das bewahrheitete sich auch an diesem Freitag. Tick tack, tick
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