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Dann fressen ihn die Raben

Dann fressen ihn die Raben

Titel: Dann fressen ihn die Raben
Autoren: David Meinke
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Liste plötzlich so lang, dass ich den Anfang schon wieder vergessen habe. Dann fange ich an zu schwitzen und betrachte die Dinge in meiner nächsten Umgebung. Meinen Pullover, meine Hosen. Ich merke, dass ich hungrig, durstig, wuschig bin, oder was auch immer als Erstes auftaucht – und dann verschwindet die Liste, und der Tag hat begonnen.
    Zuerst verwirrte mich der Anblick von Rie neben mir, doch dann kamen mir langsam die vergangenen Stunden wieder ins Gedächtnis. Rie war der Meinung gewesen, die Musik wäre zu laut – ich hatte ihr recht gegeben. Ich hatte gesagt, dass es in ihrem Zimmer bestimmt ein bisschen wärmer wäre – und sie hatte mir recht gegeben. Und von da an hatten wir uns nur noch nach dem Mund geredet. Und selbst jetzt, ohne Bierbrille, war sie immer noch ziemlich heiß. Ihr Hintern ragte unter der Bettdecke hervor. Das bleiche Licht der Straßenlaternen erleuchtete den hellen Flaum darauf.
    Dann begann die Liste aufzutauchen: Du musst in die Schule.Du musst Liv sehen – und cool bleiben. Du musst auf euer Projekt vorbereitet sein – und cool bleiben (come on, Yolanda, what’s Fonzie like?). Du musst mit dem Rektor sprechen. Du musst zu einem mega nervigen Henrik nach Hause. Du musst zurück in die Stadt. Aber zuerst … musst du dich ausgiebig mit Rie beschäftigen.
    Wie immer wurde die Liste zu lang, und es war erst 2.30 Uhr. Ich hatte vielleicht eine halbe Stunde geschlafen. Aber wahrscheinlich war es sowieso am nettesten, wenn ich mich still und heimlich aus dem Staub machte. Ich zog mich leise an und verschwand. Danke für die Nacht.
    Als ich nach Hause kam, hörte ich aus dem ersten Stock ein rhythmisches Knarzen.
    Meine Mutter? Henrik? Bevor ich mich dagegen wehren konnte, sah ich meine Mutter vor mir, schweißgebadet und mit wippenden Titten, meine Mutter, die viel zu wild von Henrik gevögelt wurde, dessen Eier dabei hin- und herschaukelten. Pfui Teufel! Aber das Szenario war eher unrealistisch. Aus diesem Grund waren die beiden nicht zusammen. Nein, meine Mutter sah in Henrik vor allem einen zuverlässigen Versorger – und Henrik gefiel die hingebungsvolle Art meiner Mutter. Es war wirklich ätzend. Und natürlich kamen die Geräusche in Wahrheit aus dem Zimmer von Sandra, die es dort gerade mit Martin trieb. Meine Schwester ist zwar sowieso ziemlich hemmungslos – aber dies war eindeutig eine Provokation gegen meine Mutter, die buchstäblich ausdrücken sollte: FUCK YOU. Oh Mann, es müsste verboten sein, dass die eigenen Familienmitglieder Sex haben. Ich zog mich aus und legte mich ins Bett. Aber ich konnte nicht einschlafen, denn die Liste wurde immer länger, und Sandra und Martin machten mich wahnsinnig.
    Tick tack. Als ich wieder aufwachte, war es 7.39 Uhr. Der Wecker hatte 39 Minuten lang geklingelt. Ich hastete ins Bad und spürte Rie auf meiner Haut. Das beflügelte mich ein wenig. Niemand in meiner Klasse machte so was. Dennoch beschlich mich inmitten all meiner Selbstherrlichkeit ein merkwürdiges Unbehagen. Denn die Liste hatte sich nicht verändert. Gespräch über Fehlzeiten mit Rektor Erik Nielsen mit den gepflegten Fingernägeln um 8.10 Uhr. Die Projektwoche, die nächsten Montag begann. Ich trocknete mich rasend schnell ab, warf mich in die Klamotten und rannte die Treppe hinunter, um meine Haferflocken zu essen. Ohne Zucker. Mit ganz wenig Milch. Ich hatte sogar schon versucht, sie nur mit Wasser zu essen, aber dann schmeckten sie doch zu fad. Meine Mutter stand in ihrem marineblauen Hosenanzug vor dem Spiegel und malte sich die Lippen. Total durchgestylt. Sie schmatzte kurz, um den Lippenstift zu verteilen, und lächelte mich an.
    „Du, Nick, kannst du heute direkt nach der Schule nach Hause kommen? Henrik und ich wollen gerne einen Familienrat abhalten.“ Sie lächelte so, als wäre das ein völlig normaler Satz, aber er stank bis zum Himmel nach Familienratgebern, Supernanny und Hippiekommune. Und vermutlich hatte meine Mutter das Wort Familienrat heute zum ersten Mal in den Mund genommen. Es handelte sich dabei ganz eindeutig um einen Henrik-Ausdruck, genau wie „zum Bleistift“, „das kann doch nicht Warstein“ und „stimmt’s oder hab ich recht?“. Phrasen, die er zum Besten geben konnte, wenn er nicht gerade Oldies summte und sich dabei wahnsinnig jung fühlte.
    Ich antwortete meiner Mutter nicht.
    „Ich mache heute Abend Gazpacho“, sagte sie. Mein Leibgericht. Ich nickte, nahm meine Tasche und rannte in die Schule.
    Erik Nielsens gepflegte
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