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Damals warst du still

Titel: Damals warst du still
Autoren: Christa von Bernuth
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auf diese Weise eine beinahe schrankenlose individuelle Freiheit. Der Junge konnte in aller Ruhe seinen Neigungen nachgehen, weil es niemanden gab, der ein Interesse daran gehabt hätte, seine seltsamen Hobbys zu analysieren und in der Folge als bedenklich zu bezeichnen. Keine schlafenden Hunde zu wecken galt als die geheime Devise schlechthin in dieser Gesellschaft, und speziell die Mutter des Jungen war eine Meisterin in der Disziplin des Wegsehens. Sein Vater hatte sich blinde Flecken in der Wahrnehmung schon so früh antrainiert, dass er tatsächlich nichts merkte.
    Als der Junge neun Jahre alt war, erkrankte sein Vater und erhielt die Diagnose: unheilbar. Er starb an einer absichtlichen Überdosis Morphium, einem Mangelprodukt, an das er als Klinikarzt zumindest leichter herankam als der Rest der Republik. Der Selbstmord wurde erwartungsgemäß von seinen Kollegen gedeckt und von seiner Frau vor Verwandten und Freunden vertuscht. Aber geredet wurde dennoch.
    In der Folge entwickelte der Junge ein abnormes, von seiner Mutter irgendwann mit Ohrfeigen quittiertes Interesse an den schauerlichen Details der mörderischen Krankheit.
    Hatte Papa Krebs?
    Ja. Weißt du doch.
    Hat der Krebs ihn aufgefressen?
    Nein. Der Krebs ist in dem Fall kein Tier, sondern eine Art Geschwulst.
    Was tut eine Geschwulst? (Er stellte sich einen Wurm vor, der sich an seinem Vater dick und rund fraß. Dieses Bild löste etwas in ihm aus, eine Art Faszination, die an Lust grenzte.)
    Sie verdrängt die gesunde Substanz. So und jetzt ist Schluss damit.
    Wie sieht die Geschwulst aus?
    Hässlich. Schluss jetzt.
    Wie hässlich? Ganz dick und rot?
    Nein. Hör jetzt auf.
    Hat sie ein Maul? Hat sie Zähne?
    Nein!
    Aber sie hat Papa innen aufgefressen, bis nichts mehr von ihm übrig war? Nur noch die Haut und ...
    Hör jetzt auf mit diesem verdammten Quatsch, sonst setzt es was!
    Er fand im Bücherschrank seiner Eltern ein medizinisches Lexikon, dessen Abbildungen von blutigen Tumoren an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließen. Er vertiefte sich in die Funktionen der Bauchspeicheldrüse. Pankreas-Karzinom, las er schließlich. So lautete die genaue Diagnose, die sein Vater erhalten hatte. Zu fast hundert Prozent tödlich. Er fand das ungeheuer interessant. Er wollte beobachten, wie das ging. Den Prozess herausfinden und analysieren.
    Insekten besaßen keine Bauchspeicheldrüse, es war also an der Zeit, sich mit anderen Tieren zu befassen. Sein erstes größeres Studienobjekt war eine Maus, die er schwer verletzt in einem Winkel des Gartens fand. Wahrscheinlich hatte eine der Nachbarskatzen mit ihr herumgespielt und dann aus irgendeinem Grund das Interesse an ihr verloren.
    Der Junge schnitt der noch zuckenden Maus vorsichtig den weichen, kleinen Bauch auf, doch sie blutete so stark, dass man nichts richtig erkennen konnte. Als sie endlich tot war und die Blutung nachließ, packte der Junge sie am Schwanz und wusch sie vorsichtig unter dem Strahl des Gartenschlauchs. Durch seine Lupe betrachtete er die winzigen, nun für immer stillgelegten Organe. Er atmete flach und hastig vor Aufregung. Vorsichtig wollte er mit der Messerspitze Darm und Magen freilegen, aber dann erfasste ihn etwas, das er selber nicht benennen konnte, und er stach wie wild auf den kleinen Kadaver ein, bis er nur noch eine braungraue Masse war.
    Danach fühlte er sich atemlos und schwach, aber auch befriedigt, wie nach einer erfrischenden körperlichen Anstrengung. Dennoch kam ihm zum ersten Mal in seinem Leben der Gedanke, dass etwas an dem, was er tat, nicht in Ordnung war. Er verscheuchte diese Idee mit einer anderen: Er beschloss, seine Angelegenheiten (so nannte er es vor sich selbst) eine Zeit lang ruhen zu lassen. Vielleicht für immer, dachte er.
    Jedenfalls machte es auf die Dauer keinen Spaß, wenn das Objekt danach so zerstört war, dass man nichts mehr damit anfangen konnte. Er beschloss, sich künftig in dieser Hinsicht zusammenzureißen, und lief ins Haus zurück, wo sich niemand sonst befand, weil seine Mutter Nachtdienst hatte und seine Schwester irgendwohin unterwegs war, wo sie ihn absolut nicht brauchen konnte. Er schaltete den Fernseher ein und wieder aus. Es gab niemanden, der ihn sehen wollte, und er selbst wollte auch niemanden sehen.

7
    Dienstag, 15. 7., ca. 12.00 Uhr
    Fabian Plessen, einundsiebzig Jahre alt. Als Beruf gab er Heilkundiger an, und bevor sich Mona über diese seltsame Bezeichnung wundern konnte, wusste sie wieder, woher sie ihn
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