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Damals im Dezember

Damals im Dezember

Titel: Damals im Dezember
Autoren: Richard Paul Evans
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ihre Kosten zu übernehmen. Sie fand es peinlich, dass ich für sie bezahlen wollte, und sträubte sich. Doch schließlich konnte ich sie überreden, mein Angebot anzunehmen.
    Am Morgen unserer Abreise trafen wir fünf uns bei Sean. Er hatte rund eineinhalb Kilometer vom Campus entfernt ein kleines Haus gemietet, das er Chez Sean nannte. Wir wollten gerade zum Flughafen aufbrechen, als es an der Tür klingelte.
    »Geht mal jemand hin?«, bat Sean.
    »Mach ich«, sagte ich. Als ich die Tür öffnete, sah ich mich meinem Vater gegenüber. Einen Moment lang starrte ich ihn überrascht an. »Dad. Was machst du denn hier?«
    Er lächelte. »Ich hatte einen Termin in Philadelphia und dachte, dass ich mal auf einen Sprung vorbeischaue und dich überrasche.«
    »Puh. Ja, das ist dir gelungen. Woher wusstest du, dass ich hier bin?«
    »Reines Glück. Als ich zu deiner Wohnung ging, hat mir einer der Studenten gesagt, dass du hier bist.«
    Angesichts unserer bevorstehenden Abfahrt wusste ich nicht recht, was ich sagen sollte. Nach einem Moment fragte er: »Darf ich reinkommen?«
    »Entschuldige, natürlich. Eigentlich wollten wir gleich zum Flughafen aufbrechen. Wir fliegen nach Saint-Barthélemy.«
    »Nach Saint-Barthélemy, oh. Entschuldige, das wusste ich nicht.«
    »Ich hätte es dir sagen sollen. Es war quasi eine spontane Entscheidung.«
    Er wirkte ein wenig verlegen. »Na, dann sollte ich vielleicht einfach wieder gehen.«
    »Nein. Wir haben noch ein wenig Zeit. Komm rein, ich mach dich mit den anderen bekannt.«
    Ich führte meinen Vater in den Küchenbereich, wo unser Gepäck stand und alle außer Sean versammelt waren. Candace und Marshall standen sofort auf.
    »Candace, das ist mein Vater.«
    Sie ging zu ihm hin. »Ich bin Candace«, sagte sie und lächelte ihn süß an.
    »Es ist mir eine Freude, Candace. Luke hat mir schon viel von Ihnen erzählt.«
    »Er hat mir auch schon viel von Ihnen erzählt«, meinte sie. »Ich freue mich wirklich, Sie endlich kennenzulernen.«
    Ich zeigte zu den anderen. »Und das sind Marshall und Lucy.«
    Mein Vater winkte. »Hallo.«
    Lucy winkte zurück. Marshall ging zu meinem Vater hin. »Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen, Sir. Ich haben mindestens ein halbes Dutzend Artikel über Sie gelesen.«
    »Glauben Sie nichts von dem, was Sie lesen«, erwiderte mein Vater leichthin.
    In diesem Moment kam Sean mit einem Bier in der Hand herein. »Wer war’s?«, fragte er. Als er meinen Vater sah, stellte er sein Bier auf die Theke. »Mr Crisp«, sagte er. »Willkommen.«
    »Das ist Sean«, stellte ich ihn vor. »Er wohnt hier.«
    Man sagt, dass manche Menschen ein gutes Urteilsvermögen haben – die Fähigkeit, durch die Maske und Verstellung eines Menschen hindurch bis in seine Seele zu blicken. Wenn jemand diese Gabe hatte, dann war es mein Vater. Ich nahm einmal an einem geschäftlichen Treffen meines Vaters mit einem potenziellen Investor teil. Bereits nach einer Viertelstunde dankte mein Vater dem Mann, dass er ihm seine Zeit geschenkt hatte, und sagte, er sei nicht interessiert. Als wir wieder allein waren, fragte ich meinen Vater, was an dem Geschäft nicht stimme. »Nichts«, sagte er. »Aber ich traue dem Mann nicht.« Zwei Jahre später las ich in unserer Lokalzeitung über eben diesen Geschäftsmann, dass er wegen Betrugs verurteilt worden war.
    Vor dem Hintergrund dieser Geschichte hätte mir die Reaktion meines Vaters auf Sean zu denken geben sollen. Mein Vater runzelte die Stirn und verspannte sich ein wenig, wie er es immer tat, wenn er etwas hörte, was ihn skeptisch stimmte. Trotzdem war mein Vater stets höflich. Er streckte die Hand aus. »Schön, Sie kennenzulernen, Sean.«
    »Ganz meinerseits«, meinte Sean. »Es ist mir eine Ehre.« Ich glaube, dies war das erste Mal, dass ich Sean habe nervös werden sehen.
    Mein Vater wandte sich wieder mir zu. »Na, dann werde ich euch mal nicht länger aufhalten, damit ihr aufbrechen könnt.«
    »Gut«, sagte ich und begleitete meinen Vater an die Tür. Alles an dieser Situation war unbehaglich. Auf der Veranda drehte er sich zu mir um. »Geht es dir gut?«
    »Alles bestens«, versicherte ich. »Das hier tut mir leid. Wenn ich gewusst hätte …«
    »Nein, es ist meine Schuld. Ich hätte vorher anrufen sollen.«
    »Tja, danke, dass du vorbeigekommen bist.«
    »Pass auf dich auf«, sagte er.
    »Okay. Viel Glück bei deinem Termin.«
    Er sah mich an, als wolle er etwas sagen, aber dann drehte er sich um und ging zu seinem Auto.
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