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Dämmerschlaf - Roman

Dämmerschlaf - Roman

Titel: Dämmerschlaf - Roman
Autoren: Edith Wharton
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nervös, trotz ihres nimmermüden Strebens nach Gelassenheit. Natürlich nicht so mürrisch und unkontrolliert wie der arme Arthur Wyant, der nie etwas von innerem Gleichgewicht, mentalem Verjüngungstraining oder dem Einssein mit dem Unendlichen gehört hatte, vielmehr war sie gereizt von der unaufhörlichen Anstrengung, Ruhe zu bewahren. In dieser Hinsicht waren die rhythmischen Übungen des Mahatma gewiss hilfreich gewesen. Nein, ein Skandal um die «Schule des östlichen Denkens» ließ Nona völlig kalt. Und als sie merkte, dass Wyant das von ihr befürchtete Thema wahrscheinlich noch nie zu Ohren gekommen war, reagierte sie aus Erleichterung geradezu fröhlich.
    Es gab Augenblicke, in denen Nona drückende Verantwortung und Ängste spürte, die ihrem Alter nicht entsprachen, böse Ahnungen hatte, die sie nicht abschütteln konnte und denen sie aus Mangel an Lebenserfahrung nicht zu begegnen wusste. Einige Freundinnen hatten ihr in den kurzen Pausen zwischen Sinnentaumel und Nervenkitzel gestanden, dass auch sie eine solche unbestimmte Besorgnis empfanden. Es war, als ob angesichts der strahlenden Entschlossenheit der gesamten älteren Generation, Sorgen und Leid zu ignorieren, sie als ausgediente Popanze «wegzudenken», als Überreste eines obsoleten europäischen Aberglaubens, unwürdig eines aufgeklärten Amerikaners, dem fließendes Wasser und Zahnheilkunde ein höheres Niveau und Bifokalgläser einen klareren Blick auf das Universum verliehen hatten – als ob diese von den Älteren ignorierten Dämonen, um ihre natürliche Beute gebracht, ihren hungrigen Schatten nun auf die Jungen geworfen hätten. Schließlich musste sich in jeder Familie ab und zu einer ins Gedächtnis rufen, dass so etwas wie Bosheit, Leiden und Tod noch nicht ganz von dieser Erde verbannt waren, und da sich all diese glatthäutigen, weißhaarigen, mit Massagen und Optimismus gepanzerten Mütter aufführten, als hätten sie noch nie von etwas anderem als vom Guten und Schönen gehört, mussten vielleicht ihre Kinder als stellvertretende Opfer herhalten. Es gab Stunden, in denen Nona Manford, eine verwirrte kleine Iphigenie 18 , beunruhigt in diese Richtung argumentierte, dann aber auch wieder andere, in denen Jugend und Unerfahrenheit in den Vordergrund traten, die Last von ihr abfiel und sie sich fragte, warum sie anders als die älteren Leute nicht glauben konnte, dass man nur lebhaft, menschenfreundlich und liebevoll sein müsse, um sich gegen die Mächte der Finsternis zu schützen.
    Auch jetzt empfand sie diese Erleichterung, aber eine vage Ruhelosigkeit blieb, und um die zu dämpfen und sich zu beweisen, dass sie nicht nervös war, erzählte sie Wyant, dass sie soeben bei Jim und Lita zum Lunch gewesen sei.
    Wyant strahlte, wie immer, wenn er den Namen seines Sohnes hörte. «Der arme alte Jim! Gestern kam er kurz vorbei, und ich fand, er sah überarbeitet aus. Ich frage mich manchmal, ob dein Vater ihm nicht mehr Strapazen aufgebürdet hat, als ein Wyant vertragen kann.» Wyant klang gut gelaunt; seine anfängliche Verbitterung gegen den Mann, der seinen Platz eingenommen hatte (eine Sicht, die Pauline als barbarisch und mittelalterlich einstufte), war im Lauf der Zeit von Dankbarkeit für Dexter Manfords Wohlwollen gegenüber Jim abgelöst worden. Das merkwürdige Trio aus Wyant, Pauline und ihrem neuen Mann war dank der wechselseitigen Zärtlichkeit für die Kinder aus beiden Ehen zu einer Art unausgesprochenem Einvernehmen gelangt, und Manford liebte Jim fast ebenso sehr, wie Wyant Nona liebte.
    «Tja», antwortete das Mädchen, «Jim tut immer alles mit vollem Einsatz. Und jetzt, wo er es für Lita und das Kind tut, muss er durchhalten, ob er will oder nicht.»
    «Wahrscheinlich. Aber warum sagst du ‹ob er will oder nicht›?», fragte Wyant aus einem seiner verstörenden Geistesblitze heraus. «Mag er nicht mehr?»
    Nona ärgerte sich, dass sie sich verplappert hatte. «Natürlich mag er. Ich meinte nur, dass er früher in seinen Neigungen ziemlich wankelmütig war und dass die Ehe ihm nun einen Lebensinhalt gegeben hat.»
    «Wie altmodisch! Aber du bist eben altmodisch, mein Kind, all diesem Jazz 19 zum Trotz. Das habe wohl ich bewirkt, zum Ausgleich dafür, dass Manford Jim den Zeitgeist nahebringt. Kein großartiger Ausgleich, fürchte ich. Aber was meinst du, wie lange wird Lita noch daran liegen, Jims Lebensinhalt zu sein?»
    «Warum sollte ihr nicht daran liegen? Und an dem Kind läge ihr auch weiterhin, selbst wen
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