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Dämmerschlaf - Roman

Dämmerschlaf - Roman

Titel: Dämmerschlaf - Roman
Autoren: Edith Wharton
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Militärkaliber und boten keinen Anhaltspunkt. Alles in allem ein interessanter Fall für die Polizei, von der es hieß, sie arbeite intensiv an der Klärung, wenn auch bisher ohne sichtbare Ergebnisse.
    Nach drei Tagen greller Schlagzeilen und Mutmaßungen in der Presse verdrängte eine andere Sensation den Einbruch in Cedarledge. Die Zeitungsleser, enttäuscht von der Unfähigkeit der Polizei, ihre Wissbegier ständig aufs Neue anzuheizen, spekulierten nicht länger über diesen Fall, und das Interesse erlosch so rasch, wie es aufgeflammt war.
    In den letzten Tagen war Nonas Fieber allmählich gesunken, und sie hatte Besuch empfangen dürfen; erst einmal pro Tag, dann zwei- oder drei-, schließlich vier- oder fünfmal – sodass ihr der Kiefer schon ein wenig wehtat vom ständigen Wiederholen ihrer Geschichte, die sie auf Bitten der Besucher mit einer gründlichen Darlegung ihrer eigenen Gefühle ausschmücken musste. Sie erzählte ihre Geschichte immer mit genau denselben Sätzen und schilderte die Vorfälle in genau derselben Reihenfolge; mittlerweile hatte sie sogar gelernt, an einer bestimmten Stelle innezuhalten, an der ihre mitleidigen Zuhörer stets zu sagen pflegten: «Aber, meine Liebe, das ist ja ganz entsetzlich – wie fühlte sich das denn an?»
    «Wie ein Schuss in den Arm.»
    «O Nona, du bist so zynisch! Aber vorher, als du den Mann gesehen hast, war dir da nicht schlecht vor Angst?»
    «Dazu hat er mir keine Zeit gelassen; mir konnte nur noch schlecht werden vom Schmerz in meiner Schulter.»
    «Man wird sie nie dazu bringen, zuzugeben, dass sie Angst hatte!»
    Und so ging das Gespräch immer weiter. Fiel ihren Zuhörern auf, dass sie ihre Geschichte mit der gleichbleibenden Präzision einer auswendig gelernten Lektion erzählte? Wahrscheinlich nicht, und wenn doch, ließen sie es sich nicht anmerken. Alle Zeitungen waren voll gewesen von dem Einbruch in Cedarledge: ein maskierter Einbrecher, ein Schuss auf Miss Manford und die Flucht des verhinderten Mörders. Die Schilderung, reißerisch und drastisch, hatte sich mit Hilfe mächtiger Schlagzeilen und ständiger Wiederholung der öffentlichen Leichtgläubigkeit eingebrannt. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden wusste jedermann von dem Einbruch in Cedarledge, die Millionäre in den Vorstädten verdoppelten die Anzahl ihrer Nachtwächter und nahmen die neuesten Errungenschaften auf dem Gebiet der Alarmanlagentechnik in Augenschein. Nona lehnte sich müde auf ihrer Couch zurück und fragte sich, wann sie wohl endlich verreisen durfte, um all dem zu entkommen.
    Die anderen gingen schon jetzt auf Reisen. Ihre Eltern fuhren noch heute Abend in die Rocky Mountains und nach Vancouver. Von dort ging es weiter nach Japan und im Frühherbst nach Ceylon und Indien. Pauline besaß bereits Empfehlungsschreiben an die vornehmsten Fürsten dieser Länder und bedauerte, dass während ihres Besuchs wahrscheinlich kein Durbar 66 stattfinden würde. Die Manfords rechneten nicht vor Januar oder Februar mit ihrer Rückkehr; die beruflichen Anstrengungen hatten Manford derart erschöpft, dass die Ärzte befürchteten, die angestaute Müdigkeit könne zu einem Nervenzusammenbruch führen, und sie hatten ihm Luftveränderung und eine anhaltende Arbeitspause verordnet. Pauline hoffte, dass Nona ihnen auf dem Heimweg bis Ägypten entgegenkäme. Ein gemeinsames sonniges Weihnachtsfest in Kairo wäre doch wunderschö n …
    Arthur Wyant war auch weggefahren – nach Kanada, hieß es, in Begleitung von Cousine Eleanor. Man munkelte, das Ziel seiner Reise sei eine private Entzugsklinik in Maine, aber so ganz genau wusste das niemand, und es kümmerte auch kaum jemanden. Als die ihm verbliebenen Kumpane hörten, er sei krank und gehe zwecks Luftveränderung auf Reisen, zuckten sie die Achseln oder lächelten und sagten: «Der arme alte Arthur – hat es wieder zu toll getrieben», und dann vergaßen sie ihn. Er hatte seinen Platz in der Welt schon lange verloren.
    Sogar Lita und Jim Wyant waren verreist. Sie hatten sich vorige Woche nach Paris eingeschifft, wo sie gerade noch zum Ausklang der Frühlingssaison eintreffen würden und Lita den Grand Prix 67 , die neue Mode und die neuen Theaterstücke würde sehen können. Jims Urlaub war bis Ende August verlängert worden; Manford, immer um seinen Stiefsohn besorgt, hatte das mit der Bank geregelt. Es war nur natürlich, fanden alle übereinstimmend, dass der gespenstische Vorfall in Cedarledge, dem seine Frau ebenso hätte zum
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