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Dämmerschlaf - Roman

Dämmerschlaf - Roman

Titel: Dämmerschlaf - Roman
Autoren: Edith Wharton
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Opfer fallen können wie Nona, für Jim eine furchtbare Aufregung bedeutet hatte, und seine engsten Freunde wussten, welche Sorgen ihm die zunehmende Trunksucht seines Vaters machte. Überhaupt hatten die beiden Wyants und die Manfords ungewöhnliche Strapazen durchlitten, und wenn die Nerven reicher Leute nicht mehr mitmachen, pflegt man ihnen als Erstes die wohlschmeckende Medizin «Reise» zu verschreiben.
    Nona drehte den Kopf unruhig auf den Kissen hin und her. Sie war todmüde und unempfänglich für den strahlenden Frühling, der ihr Blut sonst immer in Wallung brachte. Ihre Unbeweglichkeit ging ihr allmählich auf die Nerven. Anfangs hatte es ihr gutgetan, nur ruhig dazuliegen, weit weg von allem zu sein, als leidendes Opfer und offizieller Beweis für den Einbruch in Cedarledge präsentiert zu werden. Aber nun widerte ihre Rolle sie an, und sie beneidete die anderen, die sich durch Flucht entziehen konnten, durch beständiges Ausweichen.
    Nicht dass sie wirklich mit einem von ihnen hätte tauschen wollen; sie war nicht sicher, ob sie überhaupt fortwollte – körperlich. Sie sehnte sich nach geistiger Flucht, aber auf welche Weise und wohin? Vielleicht gelang ihr das am ehesten, wenn sie einfach blieb, wo sie war, wenn sie sich weiterhin an ihre paar Quadratmeter Verpflichtung und Verantwortung klammerte. Doch selbst dieser Gedanke reizte sie nicht besonders. Ihre Verpflichtung und Verantwortung – was war das schon? Bestenfalls das Neinsagen zu etwas anderem, wie alles in ihrem Leben. Sie hatte geglaubt, Verzicht bedeute Freiheit – bedeute zumindest Entrinnen. Aber jetzt schien es nur eine verschärfte Haft für sie selbst zu bedeuten. Sie war müde, kein Zweife l …
    Es klopfte an der Tür, und ihre Mutter trat ein. Neugierig hob Nona den teilnahmslosen Blick. Mittlerweile betrachtete sie ihre Mutter immer mit Neugier, Neugier nicht so sehr darauf, was sich an ihr verändert haben mochte, als darauf, was unverändert war. Und es war merkwürdig, wie die eigentliche, die alte Pauline wieder zum Vorschein kam und die neue, die verstörte und verzweifelte Spukgestalt jener Mitternacht in Cedarledge, in den Hintergrund drängt e …
    «Mein verletzter Arm hat sie gerettet», dachte Nona und erinnerte sich spöttisch, doch nicht ohne eine gewisse Bewunderung, wie jenes aufgelöste Gespenst wieder zu Pauline Manford geworden war und das Kommando über sich und die Situation zurückgewonnen hatte, sobald sie das Problem von der unmittelbaren, praktischen Seite zu packen bekam, an den Griffen der Wirklichkeit, an die sie sich immer klammerte.
    Nun war sogar diese strenge, disziplinierte Gestalt verschwunden; sie hatte, als die Tage vergingen und sich alles zunehmend beruhigte, der gewöhnlichen, alltäglichen Pauline Platz gemacht, die lächelnd auf sich selbst und die Sicherheit ihrer Umgebung vertraute. War die schreckliche Nacht in Cedarledge für sie jemals Wirklichkeit gewesen? Wenn ja, so glaubte Nona, war sie inzwischen ins Reich der Fabel entschwunden, denn die einzige sichtbare Folge war die Verletzung ihrer Tochter, und die verheilte bereits. Alles andere, was damit zusammenhing, befand sich außer Sichtweite und im Untergrund, und deshalb hatte es jetzt den Anschein, als habe es für Pauline, die unbeirrt und mehr denn je nur in zwei Dimensionen dachte, nie existiert.
    Zumindest äußerlich erkannte Nona nur einen einzigen Unterschied: ein geschicktes Make-up, das die Falten verdeckte, die trotz aller Künste der Gesichtsrestauratoren unaufhaltsam ihr Netz um Mund und Augen ihrer Mutter woben. Mit dieser feinen Maske wirkte Paulines Gesicht jünger und frischer denn je und so glatt und leer, als sei sie soeben neu geboren worden – «und eigentlich ist es ja auch so», überlegte Nona.
    Pauline setzte sich neben die Couch und legte zärtlich und leicht ihre Hand auf die ihrer Tochter. «Liebchen! Hast du schon Tee getrunken? Es geht dir wirklich besser, nicht wahr? Der Arzt sagt, morgen beginnen sie mit den Massagen. Übrigen s …» Sie warf eine Handvoll Zeitungsausschnitte auf die Decke. «Vielleicht hast du Lust, diese Artikel über den Empfang zu lesen. Maisie hat sie für dich aufgehoben. Natürlich sind die meisten fremdländischen Namen falsch geschrieben, aber die Beschreibung des Saals ist recht gelungen. Ich glaube, der Artikel für den ‹Looker-on› stammt von Tommy Ardwin. Amalasuntha meint, der Kardinal wird sich darüber freuen. Offenbar gefiel ihm die Idee mit den
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