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Dabei und doch nicht mittendrin

Dabei und doch nicht mittendrin

Titel: Dabei und doch nicht mittendrin
Autoren: Haci-Halil Uslucan
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kollektive Racheimpulse und entlastet vom eigenen Reflexionszwang. Aber Angst und Verunsicherung führen selten zu differenzierten Überlegungen, weil ein Teil der mentalenEnergie für die Regulation der eigenen Angst absorbiert wird; Menschen werden dadurch anfälliger für primitive, autoritäre Lösungen. Diesen geistigen Rückschritt sollten wir schon aus bloßem Eigeninteresse nicht zulassen.
    Dieses Buch versteht sich nicht als anwaltliche Vertretung von Migranten oder als Lobbyarbeit für Türkeistämmige, gleichwohl das Vorwort nicht frei von dieser Suggestion ist. Vielmehr will es versuchen, gemeinsam mit dem Leser, stärker aus einer Innensicht und der Profession des Autors – der Psychologie – treu bleibend, die psychologische Dimension von Migrations- und Integrationsprozessen anhand ausgewählter Bereiche zu beleuchten. Erkenntnisleitend ist dabei die Maxime: Alles verstehen heißt nicht, mit allem einverstanden zu sein, aber Verstehen ist die Voraussetzung, um überhaupt ein qualifiziertes Urteil abgeben zu können.
    Ein Vorverständnis kann das Bedürfnis nach tiefergehendem Verstehen wecken; es kann die Hemmschwellen des Dialogs senken. Und erst wenn im Alltag beide Seiten, Einheimische wie Zugewanderte, die Bereitschaft zeigen, in den Dialog einzutreten und dabei jeweils stillschweigend einzugestehen, dass auch der andere Recht haben könnte, kann jene Atmosphäre entstehen, in der Integrationsprozesse gelingen können.

Exkurs
Von den Wahl- und den Zufallsdeutschen
    Aus einem Gespräch, das ich so oder ähnlich mit einem »einheimischen« Freund in Berlin während der letzten Fußball-Weltmeisterschaft führte. Hintergrund waren Auseinandersetzungen zwischen PKK-Kämpfern und türkischen Streitkräften im Südosten der Türkei sowie Terroranschläge in der Türkei:
    STEFAN: Sag mal, Hac?, was ist denn bei euch los? Bei euch brodelt’s ja wieder.
    HACI: Ich weiß nicht so genau, was da los ist, Stefan.
    STEFAN: Wieso? Du musst es doch wissen. Du bist doch Türke!
    HACI: Ich bin Deutscher.
    STEFAN (
lächelt
): Naja schon, aber doch nicht so richtig.
    HACI: Wie nicht richtig? Stefan, ich bin sogar noch deutscher als Du.
    STEFAN: Wie meinst du das?
    HACI: Schau mal, ich habe mich entschieden, Deutscher zu werden. Ich habe einen Antrag gestellt, musste dafür auch ein bisschen Geld zahlen, hatte bestimmte Voraussetzungen zu erfüllen. Es war bei mir das Ergebnis einer rationalen, sorgsam abgewogenen Wahlhandlung. Ich habe mir gesagt: Ich will Deutscher werden und habe dafür dann etwas getan. Was hast du gemacht, um Deutscher zu werden?
    STEFAN: Na, was soll ich gemacht haben? Ich bin in Deutschland geboren. Meine Eltern sind Deutsche.
    HACI: Aber ich meine, was ist dein individueller Beitrag?
    STEFAN: Was soll denn mein individueller Beitrag sein? Es ist halt so. Hätte ich italienische Eltern und wäre ich in Italien geboren, so wäre ich Italiener.
    HACI: Siehst du, das meine ich: Du bist ein Zufallsdeutscher; und ich bin ein Wahldeutscher.
    STEFAN: »Zufallsdeutscher«? Worauf willst du hinaus?
    HACI: Ich wollte nur bemerkt haben, dass wir manchmal Menschen als hierher zugehörig oder als Fremde bezeichnen, obwohl sie doch selber keinen Anteil, keine Mitwirkung daran haben; so etwa, dass du Deutscher bist und natürlich auch so gesehen wirst, weil du hier geboren bist; aber dasselbe gilt nicht für den fünfzehnjährigen Ismail, der auch hier geboren ist, aber immer als »Der Türke« bezeichnet wird. Und das, obwohl wir doch gerade im Westen den Individualismus so wertschätzen und individuelle Verantwortlichkeiten als wesentlich betrachten.
    STEFAN: Komm Hac?, nerv mich nicht mit diesen Spitzfindigkeiten.
    An dieser Stelle brach unser Gespräch über »Wahldeutsche« und »Zufallsdeutsche« ab und wir schauten gemeinsam gebannt dem Spiel der deutschen Fußballnationalmannschaft gegen England zu.

Einleitung
Von der »Geißel Gottes« über den »Gastarbeiter« zum ausländischen Mitbürger und Migranten
    Am 31. Oktober 2011 jährt sich das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik und der Türkei zum fünfzigsten Mal. Doch die Beziehung dieser Länder beginnt weder mit den ersten Arbeitsmigranten in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts noch mit dem militärisch-familialisierenden Begriff der »Waffenbrüderschaft« im Ersten Weltkrieg. Im Gegenteil: Sie reicht weit in die Geschichte zurück. Spätestens seit der frühen Neuzeit sind Bilder des Türken im kollektiven Gedächtnis der
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