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Dabei und doch nicht mittendrin

Dabei und doch nicht mittendrin

Titel: Dabei und doch nicht mittendrin
Autoren: Haci-Halil Uslucan
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eigentümliche Form der (imaginierten) Solidarität, eine »Schicksalsgemeinschaft«, stiftet (exemplarisch etwa die »boat people« aus Fernost). Insbesondere geschieht dies bei Personen aus derselben Region, derselben Stadt oder derselben Provinz, da dann auch ein Teil gemeinsamer lokaler Geschichte, ein Stück weit historisches Bewusstsein aktiviert werden kann. Aus dem »entwurzelten« Migranten wird dadurch ein Mensch mit Geschichte, mit räumlichen und sozialen Bindungen, auf die er sich beziehen kann, die narrativ erzeugt und am Leben erhalten werden können.
    3. Oft sind die Belastungen von Migranten, wie ursprünglich in frühen Kulturschock-Theorien angenommen, nicht unmittelbarnach dem Umzug am größten, sondern erst später. Denn gerade wenn der Migrationsakt erfolgt, die Person im Land angekommen ist, kann ein Höchstmaß an Anspannung die ersten Schwierigkeiten überwinden, etwa durch klare Rollenverteilungen in der Familie und zwischen den Generationen, um die Grundbedürfnisse zu befriedigen. Verdrängungs- oder Verleugnungsprozesse können täglich erfahrene Unstimmigkeiten ausblenden, manchmal sogar durch Mythen der baldigen Rückkehr (wie sie beispielsweise unter Türken verbreitet waren) weitere erforderliche, aber nur schwer leistbare Anpassungsaufgaben zurückdrängen.
    4. Zerschellen jedoch die Träume vom besseren Leben, die an die Migration geknüpften Sehnsüchte, unter der Last der alltäglichen Widrigkeiten, können psychische Störungen und Leid die Folge sein. Diese können ihre Ursachen in divergierenden Orientierungen zwischen den Generationen aufgrund des unterschiedlichen Akkulturationstempos (Kinder überflügeln ihre Eltern), aber auch in unterschiedlichen Entwicklungen der Partner haben: So findet die Frau möglicherweise eher eine Arbeit als der Mann und bringt dadurch etablierte Rollenverteilungen und Machtbefugnisse durcheinander. Dann können das Leben, die Sozialbeziehungen, die imaginierte Vitalität (oft die Erinnerung an die eigene Jugend) – kurz alles, was in der Heimat zurückgelassen wurde – idealisiert werden, was wiederum die Anpassung zusätzlich erschwert.
    5. Insbesondere wenn eine Generation – vor allem die erste – ihre Wünsche, Hoffnungen und Ziele zurückgehalten und unterdrückt hat, so treten diese dann in der nächsten exponiert auf und werden als berechtigte Ansprüche sowohl gegenüber den Eltern als auch den Vertretern der Mehrheitsgesellschaft geäußert. Dies verstärkt zwar zunächst das Ausmaß der Konflikte, führt jedoch in der Regel langfristig durch das Zulassen, Aussprechen und Einfordern zu einer Balancierung zwischen den Familienmitgliedern.
    Dieses Modell lässt sich als ein guter Deutungsrahmen für die türkische Migration verwenden; denn türkeistämmige Zuwanderer kamen (und kommen heute noch, so etwa über die Heiratsmigration) zunächst mit einer großen Euphorie nach Deutschland. Gleichwohl das Jahr 1961 als das offizielle Datum der Anwerbung mit der Türkei gilt (am 31.10.1961, also zehn Wochen nach dem Mauerbau und dem endgültigen Einreisestopp der Arbeitspendler aus der damaligen DDR), reichen die Beziehungen in die Mitte der 50er Jahre zurück, bei denen erste Erfahrungen mit türkischen Arbeitnehmern in Deutschland im Rahmen von Fortbildungsmaßnahmen gemacht wurden. Eine dieser frühen Begegnungen ist 1956 im Bericht des Westfälisch-Lippischen Landwirtschaftsverbandes wie folgt festgehalten worden: »Der Türke scheint sich, wenn er richtig angefasst wird, durchaus einzufügen und brauchbar zu sein.« 12
    In einem Bericht eines Mitarbeiters der Bundesanstalt für Arbeit, der sich Mitte der 50er Jahre in Ankara aufhielt, wird die Geschicklichkeit der Türken gelobt und konstatiert, »dass sie gut zur Pünktlichkeit und Gründlichkeit erzogen werden könnten«. Sollten später auch Türken angeworben werden (denn seit 1955 hatte man erste Erfahrungen mit Italienern), so wird empfohlen, ihnen deutsche Fachkräfte als Kollegen beiseite zu stellen, denn »der Deutsche wirkt bei Türken wie ein Katalysator, dem Deutschen gegenüber verwandelt sich der Türke zu einem europäischen Menschen«.
    Dieser paternalistisch-herablassende Blick löste damals keine Empörung, kein Skandalon aus; er zeugte nur von der unausgesprochenen Selbst- und Fremdwahrnehmung von Etablierten und Außenseitern.
    Welch Wagemut und Risikofreudigkeit das umgekehrt für die ersten Türken zu Beginn der Anwerbung bedeutete, wird erst klar, wenn man sich
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