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Da geht noch was: Mit 65 in die Kurve (German Edition)

Da geht noch was: Mit 65 in die Kurve (German Edition)

Titel: Da geht noch was: Mit 65 in die Kurve (German Edition)
Autoren: Christine Westermann
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Herz wollte nicht über die Mauer, SWF 3 hat mich gefeuert.
    Das ist schon über dreißig Jahre her, doch noch heute schleicht sich für Sekundenbruchteile beim ersten Rotlicht die Mikroangst von damals ein: Du bist nicht gut genug.

    Das Herz über die Mauer werfen?
    Als ich den Radiopreis bekam, hatte ich das schon viele Male geschafft. Ich war keine »Zuckerschnute« mehr, die süßlich vor sich hin plapperte. Zuckerschnute, ein Begriff aus Stockingers Kritiker-Wörterbuch. Ich hatte gelernt, glaubwürdig zu sein. Authentisch. Interesse zu haben statt es zu spielen.
    Für meine Dankesrede bei der Preisverleihung hatte ich eine Minute, aber ich habe, ohne mit der Wimper zu zucken, gnadenlos überzogen. Ich habe meine Herz-über-Mauer-Geschichte von SFW 3 erzählt, habe Hans-Peter Stockinger gedankt, der, ohne es zu wissen, jahrelang hinter mir stand, wenn ich vor einem Radiomikrofon saß. Der kleine Wackler zu Beginn einer jeden Radiosendung ist als hörbare Erinnerung geblieben.

34
    Z wei Begriffe bestimmen die Zeit des Älterwerdens:
    Erstens: noch.
    Zweitens: nicht mehr.
    Einen Bikiniwettbewerb werde ich nicht mehr gewinnen.
    Studieren geht noch. Ich war noch nie an einer Universität, habe noch nie eine Vorlesung gehört. Nach dem Abitur kam die Ausbildung zur Journalistin, die Arbeit, das Leben. Beim Gedanken, in einem Seminar ein Referat halten zu müssen, wird der Fernsehfrau, der bei der Arbeit vor der Kamera sicher mehr als ein paar Dutzend Leute zugucken, schon jetzt ganz flau. Nie an einer Universität gewesen zu sein, empfinde ich als Makel, den ich loswerden möchte. Amerikanistik würde ich gern studieren, vielleicht auch noch Geschichte. Ich träume kühn davon, ein Studium mit einem Doktortitel abzuschließen. Im Wachzustand erscheint mir das so undenkbar, wie den Mount Everest zu besteigen.
     
    Die Redaktion einer Fernsehsendung hat mich gefragt, ob ich Lust habe, mal grau zu werden. Grau ist die neue Trendfarbe, Grau is beautiful, junge Frauen lassen sich mit Anfang dreißig die Haare grau färben, sie hoffen, es gäbe ihnen etwas Reifes, Erwachsenes. Meine Haare sind braun, braun getönt. An Ampeln mit langen Rotphasen gucke ich mir manchmal im Innenspiegel an, wie viel Grau sich am Haaransatz zeigt. Geht so.
    In schwachen Momenten versuche ich mich im Badezimmer auch an Verjüngungstricks. Ziehe die Gesichtshaut an den Wangen auf beiden Seiten vorsichtig Richtung Ohren, dann sehe ich gleich deutlich jünger aus. Wenn ich die Falten am Hals zum Nacken hin straffe, bringt das optisch mindestens fünfzehn Jahre. Die Verjüngung könnte ich auch professionell machen lassen. Will ich nicht. Ich werde die alte Christine Westermann bleiben. Ida Ehre, eine prominente deutsche Schauspielerin, die 89 Jahre alt wurde, hat kurz vor ihrem Tode gesagt: »Manchmal erschrecke ich, wie jung ich noch bin.«
    Da will ich auch hin.
     
    »Sie muss früher einmal eine schöne Frau gewesen sein.« Eine Bemerkung, die man alten Frauen gern anhängt. Warum früher? Ist Schönheit ein Privileg der Jugend? Wer nicht mehr jung ist, kann auch nicht mehr schön sein? Sophia Loren zum Beispiel ist eine wunderschöne Neunundsiebzigjährige.
     
    Ich habe mich für das Fernsehen mithilfe dreier Perücken tatsächlich in eine Frau mit grauen Haaren verwandeln lassen.
    Die erste hatte ein paar graue Strähnen, die zweite war durchweg grau, bei der dritten war die Verblüffung am größten. Ich hatte schlohweißes Haar und sah großartig aus.
    Die Zuschauer fanden das auch. Es kamen viele Briefe und Mails, ich solle unbedingt beim Weißgrau bleiben.

    Braun ist mir dennoch näher. Noch.
    Eine Frau schrieb, sie kenne mich aus Kindertagen, wir seien zusammen zur Volksschule gegangen, dritte Klasse, Diesterwegschule Mannheim. Als Beweis hatte sie eine fotokopierte Seite aus ihrem Poesiealbum beigelegt.
     
    »Der Geduldige gewinnt am Ende«
    Dies schrieb Dir Deine Mitschülerin
    Christine Westermann
    29. 5. 1958
     
    Dass ich das als Neunjährige geschrieben haben soll, kann ich nicht glauben. Der Satz kommt in meinem Leben nicht vor, Geduld war für mich schon immer ein Fremdwort. Geduld? Bei mir soll alles gleich passieren, hier, jetzt, sofort. Woher habe ich den Albumspruch? Von meinen Eltern ganz sicher nicht, das hätte ich mir gemerkt. Dass dieser Satz jetzt in meinem Leben auftaucht, ist zumindest bemerkenswert.
    Am Ende einer Achtsamkeitsübung steht eine Meditation, gerade da fehlt sie mir sehr, die Geduld. Ich will meine
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