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Da geht noch was: Mit 65 in die Kurve (German Edition)

Da geht noch was: Mit 65 in die Kurve (German Edition)

Titel: Da geht noch was: Mit 65 in die Kurve (German Edition)
Autoren: Christine Westermann
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ist sie wieder, meine größte Schwäche: das Vorurteil. Das Aburteilen in Sekunden.
     

    Die Stille beim Frühstück tut in den Ohren weh, weil sie so laut ist. Ein wildes atonales Konzert aus kreischenden Messern, rückenden Stühlen, klappernden Tellern. Roh geht es zu, derb.
    Wenn man noch etwas möchte, macht das Kinn eine fordernde Bewegung Richtung Kaffeekanne, deutet der Zeigefinger ungeduldig wippend auf den Brotkorb. Kein »Bitte«, kein »Danke«.
    Die zweite Tasse Kaffee versage ich mir, ich beherrsche die neue Zeichensprache noch nicht. An meinem Tisch sitzt ein Mann, der mir schnell aufgefallen ist, weil er Regeln ignoriert. Wenige Minuten vor Ende der Meditation steht er auf, faltet seine Decke zusammen, geht hinaus. Das ist irritierend, weil die anderen noch in voller Konzentration sind und jede Bewegung, jedes Geräusch sie aus der Ruhe bringt. Nach anderthalb Stunden Meditation kommen alle in den Speisesaal und da steht er schon hinter seinem Stuhl, der Mann, der das Ende nicht abwarten konnte. Noch sind alle Teller leer. Auf seinem aber stapeln sich schon Brot, Butter, Käse zu ansehnlichen Türmchen.
    Warum macht er das? Ist es die schiere Gier? Die Angst, zu kurz zu kommen? Traute ich mich, ihn zu fragen, wenn ich nicht schweigen müsste?
    Sechs Menschen sitzen an je einem Tisch, teilen sich alles. Heute Morgen sind es Müsli, Milch, Birnenkompott.
    Der Früher-Aufsteher greift als Erster zur Schüssel.
    Ich liebe Birnenkompott, vielleicht gucke ich deshalb genauer hin. Und traue meinen Augen nicht. Dieser Mann nimmt sich reichlich, macht die Schüssel halb leer. Sein Teller hingegen ist jetzt randvoll mit Birnenschnitzen, die Soße schwappt schon über den Rand.

    Ich fasse es nicht. Schon mal was von Teilen gehört? Auf den anderen achten? Drei Birnenschnitze für jeden wären ideal, rechne ich mal eben durch. Jetzt nicht mehr, weil der Birnenmann soeben sieben auf seinen Teller gehäuft hat. Ich bin empört und lege all diese Empörung in einen bösen Blick, den er nicht mal wahrnimmt.
    Die Schüssel geht reihum, kommt bei mir an. Ich nehme eine halbe Birne, schließlich kommen noch zwei am Tisch nach mir. Will ich als guter Mensch Eindruck schinden? Ich fürchte ja. Warum?
    Ich gucke mir den Raffzahn genauer an. Stelle mir vor, dass er Kriegskind war, vom Alter könnte es passen. Oder Geschwisterkind. Oder beides, wenn er Pech hatte.
    Ich bin ein Geschwisterkind. Aber ich habe mich geschlagen gegeben, bevor der Kampf ums gerechte Verteilen überhaupt begonnen hatte.
    Wer bekommt von der Gans den Schenkel?
    »Nimm Du den, ich ess den Flügel.«
    Wie bescheuert ist das denn? Macht der Birnenmann es nicht genau richtig? Er hat sich genommen, was er brauchte. Und siehe da, als die Schüssel wieder bei mir ankommt, liegen da in schöner Eintracht noch vier Birnenschnitze. Und ich bin satt, es hat gut für alle gereicht.
    Schweigend essen spart Zeit.
    Schon nach zehn Minuten rutscht der Lärmpegel wieder Richtung Stille.
    Es ist wie in der Oper vor einer großen Aufführung. Die Mitglieder des Orchesters stimmen ihre Instrumente, alles spielt durcheinander, es klingt falsch und laut und schräg, aber nur so lange, bis der Dirigentkommt und schlagartig alle Instrumente schweigen. Der wunderbare Klang erwartungsvoller Stille. Auch hier im Speisesaal.
    Alle warten auf zwei Hölzer, die, aufeinandergeschlagen, die Erlaubnis zum Aufstehen geben. Augenblicklich bricht sie wieder über einen herein, diese lärmende Unordnung, eine mächtige Kakophonie, ausgelöst von Menschen, die schweigen.
    Als ich Stunden später beim Abendessen an den Tisch trete, liegen auf dem Teller des Birnenmanns schon fünf Tofuwürstchen. Ich gucke ihn an. Ringe um ein Lächeln. Aber es gelingt nicht. Noch nicht?

10
    E r heißt Constantin.
    Was noch schöner ist, er sieht auch so aus. Jedenfalls muss in meinem Namensraster einer, der Constantin heißt, genauso sein: groß, mächtig, ein bisschen rau, die Gesichtszüge nicht ganz ebenmäßig, an der Grenze zum Beau glücklicherweise gerade noch so vorbeigeschrammt.
    Seine Geschichte klingt so interessant, wie er aussieht. Er wird in Polen geboren. Als der Ostblock sich auflöst, ist er 15 Jahre alt. Um die Freiheit zu feiern, fährt er mit seiner Mutter nach Paris. Mit seiner Mutter wohlgemerkt, nicht mit seiner Freundin. Sie staunen über das, was sie sehen, tragen schon die Sehnsucht nach einem anderen Leben in sich, bevor sie zurück nach Warschau müssen. Als sie wieder im
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