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Da geht noch was: Mit 65 in die Kurve (German Edition)

Da geht noch was: Mit 65 in die Kurve (German Edition)

Titel: Da geht noch was: Mit 65 in die Kurve (German Edition)
Autoren: Christine Westermann
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allein. Lebt in einer kleinen Wohnung mit großer Bücherwand, trinkt Früchtetee und ist einsam.«
    Er nickt.
    »Interessant«, sagt er.
    »Ich heiße Thomas, leite ein großes Unternehmen, bin verheiratet und habe drei Kinder. Und ja«, sagt er. »Wir haben eine große Bücherwand zu Hause.«
    Wenigstens etwas.

8
    I ch meditiere. Zum ersten Mal in meinem Leben. Bin der Anfänger, der alles richtig machen will und dem nichts gelingt. Konzentriere Dich aufs Atmen, hat mir die Zen-Meisterin vorgegeben. Konzentriere Dich auf Deinen Atem und nicht auf Deine Gedanken.
    Das Gegenteil passiert. Ich halte die Luft an, und mein Verstand fährt Achterbahn.
    Ich sitze in einem großen Raum mit achtzig anderen Menschen. Sie sind tatsächlich anders, sie haben die Beine gekreuzt, hocken im Schneidersitz oder auf einem Schemelchen, die Füße haben sie unter die Sitzfläche gepresst.
    Beide Variationen hatte ich zuvor erprobt.
    Nichts geht. Ich bin nicht imstande, mehr als anderthalb Minuten mit gekreuzten Beinen zu sitzen. Alle Gedanken, vor allem die, die ich loslassen soll, konzentrieren sich auf den Schmerz, der sich in Oberschenkel und Beine schleicht. Ich möchte gern wie die anderen sitzen.
    Ich will dazugehören und scheitere. Doppeltes Außenseitergefühl, denn jetzt haben sie mir einen Kasten hingestellt, die Füße berühren locker den Boden, ich bin die Einzige im Raum, die es so kommod hat. Wenigstens mit dem Atem und den Gedanken will ich es richtig machen. Aussichtslos. Meine Gedanken gebärden sich wie ein Dutzend Zweijährige, die mal eben die Kita aufmischen. Sie rasen aufgedreht umher, rempeln sich an, bringen alles durcheinander. Die alte Ordnung löst sich auf, die Erzieherin ist machtlos. Die Erzieherin bin ich. Mit mir und der Gedankenhorde gänzlich überfordert. Ich kapituliere. Überlasse den Gedanken das Feld. Wird schon, denke ich. Es wird tatsächlich.
    Meditieren, das bedeutet für einen Neuling wie mich erst mal nur vor sich hin gucken. Schielen wäre ehrlicher. Ich schiele nach links, rechts, nach vorn. Orientiere mich an den Fortgeschrittenen. Die haben die Augen halb geschlossen, sind frei von Gedanken. Hoffe ich für sie. Sie machen das schließlich nicht zum ersten Mal.
    Ich hebe den Kopf, um diese anderen achtzig Menschen zu beobachten, spüre kurz leichte Scham, ein Klassenzimmergefühl. Alle wissen, was zu tun ist, schreiben stumm in ihre Hefte, nur ich bin mit meinen Gedanken woanders. Genau wie jetzt.
    Die Augen offen halten, etwa dreißig Zentimeter vor sich auf den Boden gucken, lautet die Meditationsanweisung. Ich gucke auf Stabparkett, wie ich später lerne. Während ich noch vor mich hin stiere, die Gedanken in meinem Kopf kreischen und Ringelreihe spielen, passiert etwas unerwartet Angenehmes. Ich sehe plötzlich Bilder. Mein Kopf, mein Herz, meine Fantasie, mein Unterbewusstes, wer oder was auch immer, produziert überraschend schöne Bilder.
    Aus dreißig Zentimetern Stabparkett wird ein langer Strand mit einer hoch aufschäumenden Gischt, ich sehe die Wellen, die sachte am Ufer auslaufen. Ich rutsche rein in dieses Bild, halte es fest, es geht ganz leicht, ich sehe diesen Strand nicht nur, ich bin da. Nichts weiter, nur der Strand, das Meer und ich. Die Gedanken halten still. Ist das Meditation? In sich reinrutschen?
    Hält nicht lange an. Die Gedanken kommen zurück. Sind übermütig. Wenn Meer und Strand möglich sind, was geht noch? Alles?
    Kälte, Schnee, Winter zum Beispiel, wollen sie ausprobieren. Während ich die Brandung noch mit meinem Blick festhalte, verarbeitet der Kopf wohl schon die Information »Schwarzwaldkulisse«.
    Die Augen beginnen zu tränen, sie liefern mir leicht unscharf neue Bilder. Ich sehe Winterwald, Tannen, aus der weißen Gischt sind Schneewehen geworden. Die Gedanken formen einen Schlitten, der sich nur einen Sekundenbruchteil später aus dem Nichts in die Bildmitte schiebt.
    Ich staune über mich. Oder es? Ich oder es, wir können uns überall hindenken.
    Geht auch Mittelalter? Oder Zukunft?
    Der Mann neben mir knotet seine Beine auseinander, löst sich aus dem Schneidersitz.
    Alle stehen auf und gehen. Einfach so.
    Gehen. Einen Fuß vor den anderen setzen. Nicht denken, höchstens die simple Aneinanderreihung von wenigen Wörtern: Mensch, Fuß, Boden.
    Meine Gedanken kennen kein Innehalten. Sie bewerten meine braunen, viel zu großen neuen Hüttenschuhe, hastig vor der Abreise im Drogeriemarkt gekauft. Warum denke ich jetzt an Drogeriemarkt, an
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