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Cut

Cut

Titel: Cut
Autoren: Merle Kroeger
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eher unangemessen. Wie oft hast du diese Frage schon gehört? Wenn du jemanden kennen lernst, fällt sie in der ersten halben Stunde, worauf du wetten kannst. Früher hast du geschwiegen, peinlich berührt, als hätte man dich nach der Farbe deiner Unterhose gefragt. Später hast du gelernt, die Peinlichkeit zurückzuspielen.
    »Aus Hamburg, wieso?« Jetzt sind es die anderen, die nach Worten graben. Sie versuchen, die Falle der politischen Unkorrektheit zu umgehen, die du ihnen stellst. Dabei hast du nur die Wahrheit gesagt.
    Dein Blick zuckt zurück in die Realität, als du mitkriegst, dass die Gruppe einen Kinosessel mit sich schleppt. Es macht keinen Unterschied mehr, bleib ruhig, lass sie gehen.
    »Hey! Was macht ihr mit dem Sessel, der gehört euch nicht!«
    Du kannst es nicht lassen, oder? Du machst dich doch nur lächerlich, wie du ihnen keuchend hinterherhechtest und den Letzten am Ärmel ziehst. Siehst du, jetzt wird es Ärger geben. Der Typ stellt in aller Ruhe den Sessel ab, dreht sich um und baut sich vor dir auf. Du reichst ihm gerade mal knapp über den Bauchnabel. Sehr eindrucksvoll.
    »Wird doch abgerissen, was willst du, Alte?« Er mault dich an wie ein kleiner Junge. Ein Grinsen überzieht sein Gesicht. »Willst wohl selbst die besten Stücke für dich, was?« Hinter ihm kichert ein Mädchen und er schwenkt die Arme in Siegerpose.
    Du tauchst unter seinem Arm ab, fixierst das Mädchen, dem du wenigstens in die Augen gucken kannst, und setzt zu einem Vortrag über die Doppelmoral von Leichenfledderern an. Neben dir schubbert ein blauer Renault Kastenwagen am Bordrand entlang und kommt zum Stehen. Hansen und Söhne Innensanierung entziffert dein eines Auge im Licht der Kinoreklame, während das andere noch mit dem Mädchen beschäftigt ist. Manchmal hat dein Silberblick auch seinen Vorteil.
    Zwei verschlafene Gesichter und kurz darauf die dazugehörigen Körper im Blaumann schälen sich aus dem Auto. Ein junges und ein älteres Exemplar derselben Baureihe.
    »Hansen senior, das ist mein Sohn. Wir suchen Frau Madita Junghans.«
    Du schließt den Mund, der Vortrag verschwindet wieder in der Schublade. »Ich bin Frau Junghans.«
    Die Gruppe mit dem Sessel nutzt die Gunst der Stunde und macht sich davon.
    »Wir haben hier einen Auftrag des Eigentümers«, Hansen senior schiebt sich eine altertümliche Hornbrille auf die Nase und liest mit leiernder Stimme von einem Zettel ab, den er aus der Tasche gezogen hat, »HUB Immobilien. Laut notariell beglaubigter Vereinbarung vom 1.10. sind die Nutzer dazu verpflichtet, nach Erhalt der Abfindung mit sofortiger Wirkung das ehemalige Lichtwerk-Kino in der …«
    Du hast die Kiefer so fest aufeinander gepresst, dass es in den Ohren knackt. Spar dir den Rest. Geh einfach rein und bring es hinter dich. Mechanisch greifst du nach dem großen Schalter und legst ihn um. Die Leuchtreklame erlischt. Die plötzliche Dunkelheit vor deinen Augen verwandelt sich langsam in eine gräuliche Morgendämmerung.

3 Scherenschnitte
    Charlotte schob die geklöppelte Spitzengardine zur Seite und starrte in den Schneeregen. Der Harmsdorfer See hatte seine frühmorgendlich bleierne Farbe und sah kalt aus. Am Ufer erkannte sie undeutlich den Strandweg im Schatten der Trauer weiden. Er schien auf die Urlauber zu warten, die erst im nächsten Jahr wiederkommen würden. Wenn sie kamen. Ein verregneter Sommer und halb Harmsdorf war pleite.
    Charlotte war froh, dass ihr Vater damals, nach dem Krieg, kein Haus in der Innenstadt gekauft hatte. »Harmsdorf ist ein paradiesisches Fleckchen Erde, wenn man seinen Bewohnern aus dem Wege gehen kann«, hatte er immer gesagt.
    Heute war das Grundstück am Ende der Sackgasse Gold wert. Wie oft hatte sie schon reiche Hamburger in ihrem Vorgarten gefunden, die ihr mit Scheckbüchern vor der Nase herumwedelten. Aber das hatte sie ja Gott sei Dank nicht nötig. Solange sie am Leben war, würde hier weder ein Yachtclub noch ein Wellness-Zentrum aufmachen.
    Charlotte kannte den See wie einen alten Freund. Dunkelblau mit kleinen Wellen wie auf den Postkarten. Schwarz und still in Vollmondnächten. Hellgrau und schäumend bei Sturm. Dunkelgrau gesprenkelt wie heute früh. Sie blickte noch einmal suchend in die Grautöne, zog ihren Morgenmantel enger um sich und ging zu ihrem Sessel. Ihre Finger strichen automatisch über die kleine verschlissene Stelle auf dem grünen Samt, dann zupften sie das Spitzendeckchen über der Lehne zurecht. Vor den hohen Regalen mit
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