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Cryer's Cross

Cryer's Cross

Titel: Cryer's Cross
Autoren: Baumhaus
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dies tun muss, um Nico zu retten. Aber wo ist er? Und wie soll ihm das eigentlich helfen? Ihr zwangsgestörtes Gehirn beginnt zu arbeiten, und ein einzelner Gedanke schleicht sich ein. Das ist falsch. Das ist falsch. Sie beginnt zu zählen. Sie zählt ihre Herzschläge, zählt die Steinchen in ihrem Mund, die Minuten, die vergehen. Der Nebel in ihrem Kopf verzieht sich ein wenig. Genug. Gerade genug. Genug, um zu kämpfen.
    Der Bann der Stimmen wird schwächer. Gerade genug. Mit ihrem freien Arm stößt sie die Erde von ihrem Gesicht, spuckt den Dreck aus und stößt einen letzten heiseren Schrei aus, bevor sie das Bewusstsein verliert.
    »Jacián!«
    Die Stimme in ihrem Kopf – nicht Nicos, es war nie die von Nico – schreit auf wie vor Schmerz.

26
    Am Morgen regnet es.
    Das Wasser wäscht ihr den Schmutz aus den Augen.
    Die Stimme ist noch da, ruft ihr Befehle zu, doch sie weiß jetzt, dass es nicht Nico ist. Sie bekämpft sie mit ihrer eigenen Waffe, mit ihrem Werkzeug. Die wirbelnden Gedanken sind ihr auf einmal willkommen. Sie hat die Macht.
    Zuerst kann sie sich nicht bewegen. Der Regen lässt das Grab wie eine Zwangsjacke erscheinen, als wäre sie mit breiten Gurten daran gefesselt. Sie kann nur den Kopf drehen. Und die Erde aushusten.
    Im verregneten Morgenlicht kann sie klarer sehen. Und klarer denken. Die Markierungen sind weiße Kreuze. Die Knochen, die sie mit ihren Stiefeln berührt, sind alt. Dieser Ort ist verlassen. Aufgegeben. Gefangen in einer anderen Zeit. Das einzige Geräusch ist das von Regen auf Blättern, von Regen auf Erde, von Regen auf Haut.
    Die Ereignisse des gestrigen Tages fallen ihr wieder ein, als sie wieder zu sich kommt und ihre Sinne wieder unter Kontrolle hat. Sie ordnet ihre wirren Gedanken.
    »Oh mein Gott!«, schreit sie. »Was passiert hier?«
    In Panik beginnt sie zu kämpfen. Das Entsetzen über das, was beinahe passiert wäre, und die Platzangst, die sie unter der nassen Erde bekommt, verleihen ihr die übermenschliche Kraft, die sie braucht, um sich daraus zu befreien. Sie krallt sich an den Seiten des Grabes fest und dreht sich hustend auf den Bauch.
    Ihre Kehle schmerzt, sie friert, und ihr Körper ist übersät mit Kratzern und blauen Flecken. Sie hebt den Kopf und sieht sich auf dem überwucherten Hof um. Sieht jetzt alle Kreuze.
    Vierundzwanzig.
    In vier gleich großen Quadranten.
    Mit Gängen zwischen den einzelnen Bereichen.
    Die Erde auf den beiden Gräbern neben Kendall scheint ein wenig frischer zu sein. Aufgeworfen. Sie sieht näher hin und entdeckt eine verweste Hand und Knochen. Sie kriecht zu dem Grab hinüber, das ihr am nächsten ist, und fängt an zu graben.
    Plötzlich hat sie lange braune Haare in der Hand – das ist nicht Nico. Könnte es Tiffany sein?
    Kendall wird von dem Gestank auf diesem Friedhof überwältigt.
    Sie hievt sich auf die Seite und kriecht zu dem anderen Grab hinüber. Beim Anblick der verwesten Hand reibt sie sich ungläubig die Augen. Die Hand scheint sich zu bewegen. Doch dann erkennt sie, warum.
    Maden.
    Sie wendet sich ab, der Anblick und der Gestank lassen sie würgen, und wieder erstickt sie fast an der Erde, die ihre Kehle reizt.
    Mit letzter Kraft und blutigen Fingern gräbt sie erneut. »Bitte nicht, bitte nicht, bitte nicht!«, wiederholt sie leise weinend.
    Sie schabt die Erde weg, fort von seinem schwarzen, aufgedunsenen Gesicht, und die weißblonden Haare bestätigen ihre schlimmsten Befürchtungen.
    »Nein!« Der Schrei kommt tief aus ihrer Brust. Sie lässt sich schluchzend auf den Rücken fallen und weint. Weint, bis sie keine Tränen mehr hat. Sie rollt sich so weit wie möglich weg, bis ihre Kräfte sie verlassen.
    Sie liegt dort, ruhig, und spürt weder Kälte noch Schmerz. Nichts spielt mehr eine Rolle.
    Nico ist tot.
    Als der Regen nachlässt und es langsam Abend wird, hört sie ein Geräusch.
    »Kendall!«
    Es scheint so weit weg.
    Sie hat Wahnvorstellungen. Sie ist zu schwach, um zu rufen.
    »Nico?«, stößt sie heiser hervor.
    Um sie herum fällt der Regen. Alles ist dunkel.
    Jemand hebt sie hoch, wickelt sie in einen Mantel, trägt sie, als sei sie ein Baby. Aus weiter Ferne hört sie noch andere Stimmen, die entsetzt aufschreien.
    Sie gehen schnell. Ein Zweig schlägt ihr ins Gesicht, sie zuckt zusammen.
    »Mist. Entschuldige.«
    »Jacián«, flüstert sie. Jeder Atemzug lässt ihre Brust schmerzen. Sie bewegt sich in seinen Armen.
    »Halt still, es ist noch ein ganzes Stück.«
    »Sie sind
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