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Crazy Moon

Crazy Moon

Titel: Crazy Moon
Autoren: Sarah Dessen
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dem Radio mitsang. Und ich vermisse die Autobahnen, die sich endlos vor uns ausdehnten, so viele ungeahnte Möglichkeiten bargen, zu neuen Städten und neuen Schulen führten, wo ich von vorne anfangen konnte, immer wieder von vorne.
     
    Als der Zug fünf Stunden später in den Bahnhof von Colby einfuhr, stand ein einziger Mensch auf dem Bahnsteig und wartete: ein Typ mit schulterlangem braunen Haar, gebatiktem T-Shirt , abgeschnittenen Armeehosen und Birkenstock-Sandalen. An dem einen Handgelenk |14| trug er ungefähr eine Million von diesen Hippie-Armbändern, auf die die Grateful-Dead-Fans so abfahren, und der Rahmen seiner Sonnenbrille war knallblau.
    Der einzige Mensch, der in Colby ausstieg, war ich.
    Ich stand auf dem Bahnsteig und blinzelte in die grelle Sonne. Obwohl das Meer angeblich ganz in der Nähe lag, war es extrem heiß.
    »Nicole?«, fragte der Typ, und als ich daraufhin hochblickte, schlenderte er zu mir rüber. Seine Shorts waren mit weißen Farbspritzern übersät und ich hätte wetten können, dass er entweder nach Patschuli oder nach Marihuana roch. Aber um das mit Sicherheit festzustellen, hätte ich dichter an ihn herangehen und an ihm schnüffeln müssen, und das konnte ich mir nun wirklich verkneifen.
    »Colie.«
    »Auch gut.« Er lächelte. Seine Augen konnte ich hinter den dunklen Gläsern allerdings nicht erkennen. »Mira hat mich geschickt, um dich abzuholen. Ich heiße Norman.«
    Mira war meine Tante. Sie hatte mich für den Sommer am Hals.
    »Sind das deine?« Er deutete auf meine Taschen, die der Gepäckträger weiter hinten auf dem Bahnsteig aufgetürmt hatte. Ich nickte und er setzte sich in Bewegung, mit so einem betont langsamen Gang, der mich sofort nervte.
    Ich wäre beinahe gestorben, als ich entdeckte, dass tatsächlich sämtliche Kiki-Produkte neben meiner Tasche aufgestapelt waren. Der Kiki-Po-Trainer, ein Paket mit Kiki-Snacks, ein Dutzend Fly-Kiki-Videos und Motivations-Kassetten, dazu diverse Kartons mit Vitaminpillen |15| und nagelneuen Fitnessklamotten. Und von sämtlichen Verpackungen lächelte das Gesicht meiner Mutter herunter.
    »Wow!« Norman nahm den Po-Trainer in die Hand und begutachtete ihn von allen Seiten. »Wofür ist
das
denn?«
    Ich schnappte ihm das Teil weg: »Das nehme ich.« Die ganze Zugfahrt über hatte ich mir vorgestellt, wie ich in Colby auflaufen würde: geheimnisvoll, anders – die düstere Fremde, die keine Fragen beantwortet. Und wenn man aber einen Po-Trainer mit sich rumschleppte, war es nicht ganz einfach, dieses Image aufrechtzuerhalten. Was mich aber besonders ärgerte, war die Tatsache, dass ich ausgerechnet dabei zum ersten Mal seit einem Jahr einem Jungen über den Weg lief, der mich nicht automatisch für eine Schlampe hielt.
    »Meine Karre steht da drüben.« Ich folgte ihm zu einem verbeulten Ford Kombi, der auf dem leeren Parkplatz stand. Er verstaute meine Tasche im Kofferraum und hielt die Klappe für mich auf, damit ich den Po-Trainer unterbringen konnte. Krachend landete er auf der Ladefläche. Danach kehrten wir noch einmal auf den Bahnsteig zurück, um den restlichen Kiki-Scheiß zu holen.
    »Wie war die Fahrt?« Der Wagen war mit allem möglichen Krempel voll gestopft und roch nach altem Laub. Den Beifahrersitz hatte er immerhin freigeräumt, aber anscheinend erst vor kurzem und in fliegender Eile. Auf der Rückbank saßen vier kopflose Schaufensterpuppen. Einer fehlte außerdem ein Arm, einer anderen eine Hand. Dennoch waren sie fein säuberlich nebeneinander aufgereiht, als hätten sie sich extra für die Fahrt in Positur gesetzt.
    |16| »Okay«, antwortete ich und fragte mich im Stillen, was Mira mir da für einen Irren geschickt hatte. Ich stieg ein und knallte die Wagentür zu. Dabei erhaschte ich einen flüchtigen Blick auf mich selbst im Seitenspiegel. In dem Chaos hatte ich meine Haare völlig vergessen. Sie waren so schwarz, dass ich mich einen Augenblick lang selbst nicht wiedererkannte.
    Nach einigem guten Zureden gelang es Norman, den Wagen anzulassen. Wir fuhren auf die leere Kreuzung hinaus.
    »Sag mal, tat das weh?«
    »Was?«
    Er sah mich von der Seite an und legte einen Finger auf seine Lippe, rechts oben. »Das da. Hat es wehgetan?«
    Ich fuhr mit der Zunge an der Innenseite meiner Oberlippe entlang und berührte den kleinen Metallring. Ich hatte mich erst vor wenigen Monaten piercen lassen, aber der Ring fühlte sich an, als sei er schon immer ein Teil von mir gewesen. Mein einziger Halt, mein
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