Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Coraline

Coraline

Titel: Coraline
Autoren: Neil Gaiman
Vom Netzwerk:
Ausdruck auf ihrem Gesicht war ein äußerst schrecklicher Anblick. »Du liegst völlig falsch ! Du weißt nämlich gar nicht, wo deine Eltern sind, nicht wahr? Sie sind nicht da.« Damit drehte sie sich um und sah Coraline an. »Und jetzt«, sagte sie, »bleibst du für immer und ewig hier.«
    »Nein«, sagte Coraline, »ich bleibe nicht.« Und sie schleuderte der anderen Mutter den schwarzen Kater entgegen, so fest sie nur konnte. Er jaulte auf und landete auf dem Kopf der anderen Mutter, mit ausgefahrenen Krallen und gefletschten Zähnen, wild und voller Wut. Mit dem gesträubten Fell sah er wieder so groß aus wie im wirklichen Leben.
    Ohne abzuwarten, was als Nächstes passierte, langte Coraline zum Kaminsims hoch, schloss die Hand um die Schneekugel und steckte sie tief in die Tasche ihres Morgenmantels.
    Der Kater stieß ein tiefes, heulendes Jaulen aus und schlug seine Zähne in die Wange der anderen Mutter. Sie fuchtelte wild mit den Armen. Aus den Kratzern in ihrem weißen Gesicht lief Blut – kein rotes Blut, sondern eine tiefschwarze, teerartige Masse. Coraline rannte zur Tür.
    Sie zog den Schlüssel aus dem Schloss.
    »Lass sie! Komm!«, rief sie dem Kater zu. Er fauchte und fuhr mit seinen rasiermesserscharfen Krallen in das Gesicht der anderen Mutter, mit einer einzigen, wilden Bewegung, nach der aus mehreren tiefen Kratzern auf der Nase der anderen Mutter etwas Zähflüssiges, Schwarzes quoll. Dann sprang er von ihr hinunter, auf Coraline zu. »Schnell!«, sagte sie.
    Der Kater rannte zu ihr und sie traten beide in den dunklen Korridor.
    Dort war es kälter, so wie wenn man an einem warmen Tag einen Keller betritt. Der Kater zögerte einen Augenblick, doch als er sah, dass die andere Mutter auf sie zukam, lief er zu Coraline und machte an ihren Beinen Halt.
    Coraline begann, die Tür zuzuziehen.
    Sie war schwerer, als sie es bei einer Tür für möglich gehalten hätte, und sie zu schließen war so, als wollte man eine Tür bei starkem Gegenwind zuziehen. Und dann spürte sie, wie jemand auf der anderen Seite in die entgegengesetzte Richtung zog.
    Geh zu!, dachte sie. Dann sagte sie laut: »Mach schon! Bitte!« Und sie spürte, wie die Tür in Bewegung kam, sich zu schließen begann, sich gegen den Phantomwind stemmte.
    Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass noch andere bei ihr im Korridor waren. Sie konnte sich nicht nach ihnen umdrehen, wusste aber auch so, wer es war, ohne zu ihnen hinsehen zu müssen. »Bitte helft mir«, sagte sie. »Alle zusammen.«
    Die anderen im Korridor – drei Kinder, zwei Erwachsene – hatten irgendwie zu wenig Materie, um die Tür anfassen zu können. Aber ihre Hände umschlossen die von Coraline, als sie an der großen, eisernen Türklinke zog, und plötzlich fühlte sie sich stark.
    »Nur nicht nachlassen, Miss! Halt aus! Halt aus!«, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf.
    »Zieh, Mädchen, zieh!«, flüsterte eine andere Stimme.
    Und dann kam eine Stimme, die sich nach der ihrer Mutter anhörte – ihrer eigenen Mutter, ihrer echten, herrlichen, nervtötenden, einen zum Wahnsinn treibenden, wunderbaren Mutter. Sie sagte nur: »Das hast du gut gemacht, Coraline«, und das genügte.
    Die Tür begann, ins Schloss zu fallen, so leicht und mühelos wie nur was.
    »Nein!«, schrie eine Stimme hinter der Tür und diese Stimme hatte jetzt gar nichts Menschliches mehr an sich.
    Etwas langte durch den schmaler werdenden Spalt zwischen Tür und Türrahmen und schnappte nach Coraline. Sie riss den Kopf zurück und konnte dem Griff entgehen, aber die Tür begann, sich jetzt wieder zu öffnen.
    »Wir gehen nach Hause«, sagte Coraline. »Auf jeden Fall. Helft mir!« Und sie wich den Fingern aus, die nach ihr langten.
    Da handelten die anderen für sie: Geisterhände verliehen ihr die Kraft, die sie nicht mehr besaß. Es gab noch einen letzten Widerstand, als hätte sich etwas in der Tür verfangen. Das hielt einen Augenblick an und dann schlug die hölzerne Tür mit einem lauten Knall zu.
    Aus Coralines Kopfhöhe fiel etwas zu Boden und landete mit einem Plumps, in dem ein seltsames Trippeln enthalten war.
    »Komm weiter!«, sagte der Kater. »Das hier ist kein guter Ort, um sich darin aufzuhalten. Mach schnell!«
    Coraline wandte der Tür den Rücken zu. So schnell, wie es nur ging, rannte sie durch den dunklen Korridor und fuhr dabei mit der Hand an der Wand entlang, damit sie nirgends dagegenstieß oder in der Finsternis die Orientierung verlor und in die entgegengesetzte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher