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Coraline

Coraline

Titel: Coraline
Autoren: Neil Gaiman
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vor sich hin, als sie die Tür schloss.
    Coraline schlenderte über die Wiese zum alten Tennisplatz, dabei ließ sie den schwarzen Schlüssel an seiner Schnur baumeln und schwenkte ihn hin und her.
    Mehrmals bildete sie sich ein, im Gestrüpp etwas zu sehen, was die Farbe eines Knochens hatte. Es war etwa zehn Meter entfernt, hielt aber Schritt mit ihr.
    Sie versuchte zu pfeifen, brachte aber keinen Ton zu Stande. Deshalb sang sie stattdessen, und zwar ein Lied, das ihr Vater sich für sie ausgedacht hatte, als sie noch ein Baby war. Dieses Lied hatte sie immer zum Lachen gebracht. Es ging so:
    »Du bist so süß, ob laut, ob leise . Ich geb dir frisch gepresste Säft e Und, wenn du willst, auch Speise - Eis .
    Ich knuddel dich ganz fest und dol l Und geb dir tausend Küsschen , Stopf dich mit guten Sachen voll , Aber niemals geb ich di r Würmer und Käfer mit Schnaps und Bier , Weder kalt noch heiß. «
    Das sang sie also, als sie gemächlich durch das Wäldchen ging, und ihre Stimme zitterte kaum dabei.
    Die Tee-Party der Puppen war noch genauso aufgebaut wie zuvor. Coraline war heilfroh, dass es nicht windig war. Alles war an Ort und Stelle und die wassergefüllten Puppentassen hielten das Papiertischtuch fest, so wie es beabsichtigt war. Sie atmete erleichtert auf.
    Jetzt kam der schwerste Teil.
    »Hallo, ihr Puppen«, sagte sie munter. »Jetzt wird’s Zeit für unseren Tee.«
    Sie trat näher an das Papiertischtuch heran. »Ich habe den Glücksschlüssel mitgebracht«, erzählte sie den Puppen. »Damit unser Picknick auch ganz bestimmt schön wird.«
    Und dann beugte sie sich vorsichtig vor und legte ganz behutsam den Schlüssel auf das Tischtuch. Die Schnur hatte sie immer noch fest in der Hand. Sie hielt den Atem an und hoffte, dass die Tassen mit dem Wasser rund um den Brunnenrand das Tischtuch festhalten würden, sodass es das Gewicht des Schlüssels aushielt, ohne in den Brunnen hinunterzufallen.
    Der Schlüssel lag in der Mitte des Picknicktuchs. Coraline ließ die Schnur los und trat einen Schritt zurück. Jetzt kam alles auf die Hand an.
    Sie wandte sich ihren Puppen zu.
    »Wer möchte ein Stück Kirschkuchen?«, fragte sie. »Jemima? Pinky? Primel?« Und sie servierte jeder Puppe ein unsichtbares Kuchenstück auf einem unsichtbaren Teller und plauderte dabei fröhlich drauflos.
    Aus dem Augenwinkel nahm sie etwas Knochenweißes wahr, das von einem Baumstamm zum nächsten sauste und dabei immer näher kam. Sie zwang sich dazu, nicht hinzusehen.
    »Jemima!«, sagte Coraline. »Was bist du doch für ein böses Kind! Du hast deinen Kuchen runtergeschmissen. Jetzt muss ich dir ein neues Stück holen!« Und sie ging um die Puppengesellschaft herum, bis sie sich, von der Hand aus gesehen, auf der anderen Seite davon befand. Sie tat so, als fegte sie heruntergefallenen Kuchen auf, und versorgte Jemima mit einem neuen Stück.
    Und dann, in rasender, trappelnder, trippelnder Hast, kam sie angerannt. Die Hand, hoch oben auf den Fingerspitzen, krabbelte durch das hohe Gras auf einen Baumstumpf hinauf. Dort verharrte sie einen Augenblick lang wie ein Krebs, der die Luft schmeckt, und stürzte sich dann mit einem einzigen, triumphierenden Satz mitten auf das Papiertischtuch, dass die Fingernägel nur so klackten.
    Für Coraline verlangsamte die Zeit ihr Tempo. Die weißen Finger schlossen sich um den schwarzen Schlüssel . . .
    Und dann schleuderten das Gewicht und der Schwung der Hand die Plastiktässchen hoch in die Luft und das Papiertischtuch und der Schlüssel und die rech te Hand der anderen Mutter stürzten holterdiepolter in die Finsternis des Brunnens hinab.
    Langsam zählte Coraline vor sich hin. Erst als sie bei vierzig war, hörte sie von tief unten ein gedämpftes Platschen.
    Irgendjemand hatte ihr mal gesagt, dass man, wenn man unten aus einem Schacht zum Himmel emporblickt, selbst mitten am helllichten Tag einen Nachthimmel mit Sternen sieht. Coraline fragte sich, ob die Hand von dort, wo sie war, wohl Sterne sehen konnte.
    Sie schleifte die Bretter wieder heran und legte sie über den Brunnen, deckte ihn so sorgfältig zu, wie es nur ging. Niemand sollte dort hineinfallen. Niemand sollte dort je wieder herauskommen.
    Dann legte sie ihre Puppen und die Tassen wieder in die Schachtel, in der sie alles hertransportiert hatte. Während sie damit zugange war, wurde sie auf etwas aufmerksam, und sie richtete sich noch rechtzeitig auf, um den schwarzen Kater zu sehen, der mit hocherhobenem Schwanz, die
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