Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Coraline

Coraline

Titel: Coraline
Autoren: Neil Gaiman
Vom Netzwerk:
langer Zeit, als wir noch in unserem alten Haus wohnten, ist mein Vater mit mir auf dem Ödland spazieren gegangen, das zwischen unserem Haus und dem Einkaufsviertel lag. Zum Spazierengehen war das nicht gerade der ideale Ort. Dort lagen alle möglichen Sachen herum, die irgendwelche Leute weggeworfen hatten – alte Töpfe und kaputtes Geschirr und arm-und beinlose Puppen und leere Dosen und Flaschenscherben. Ich musste Mum und Dad versprechen, dort nicht auf Entdeckungsreise zu gehen, weil es da zu viele Sachen mit scharfen Kanten gab und Tetanus und so. Aber ich lag ihnen dauernd in den Ohren damit. Also zog sich mein Dad eines Tages seine großen, braunen Stiefel an und seine Handschuhe und er steckte mich in meine Stiefel und Jeans und einen dicken Pullover und dann machten wir einen Spaziergang.
    Wir liefen etwa zwanzig Minuten lang herum. Als wir gerade einen Hügel hinuntergingen, an einem Graben entlang, durch den unten ein Bach floss, sagte mein Vater plötzlich: ›Coraline – lauf weg. Den Hügel hoch. Schnell!‹ Das sagte er mit gepresster Stimme, so drängend, dass ich es machte. Ich rannte davon, den Hügel hinauf. Hinten am Arm tat mir etwas weh, aber ich lief weiter. Als ich oben auf der Kuppe angekommen war, hörte ich hinter mir jemand den Hügel hochstürmen. Das war mein Dad, der wie ein Rhinozeros drauflosraste. Er kam zu mir, hob mich hoch und rannte mit mir über die Hügelkuppe. Und dann blieben wir stehen und schauten keuchend und japsend hinunter zum Graben.
    Die Luft schwirrte von gelben Wespen. Wir waren offenbar auf ein Wespennest in einem vermoderten Ast getreten. Und während ich den Hügel hochrannte, war mein Dad dort geblieben und ließ sich stechen, damit ich Zeit zum Weglaufen hatte. Beim Rennen war ihm die Brille heruntergefallen.
    Ich hatte nur den einen Stich hinten am Arm. Er hatte, auf dem ganzen Körper verteilt, neununddreißig Stiche. Die haben wir später im Bad gezählt.«
    Der schwarze Kater begann, sich Gesicht und Schnurrhaare zu putzen, wobei die Art und Weise, wie er das machte, auf wachsende Ungeduld hinwies. Coraline langte hinunter und streichelte ihn am Hinterkopf und Nacken. Der Kater stand auf, lief ein paar Schritte, bis er außerhalb ihrer Reichweite war, ließ sich dann nieder und sah wieder zu ihr auf.
    »Und dann«, sagte Coraline, »später am Nachmittag, ist mein Vater noch mal auf das Ödland gegangen, um seine Brille zu holen. Er sagte, wenn er das auf einen anderen Tag verschieben würde, wüsste er nicht mehr, wo sie ihm heruntergefallen war.
    Als er kurz darauf wieder nach Hause kam, hatte er seine Brille auf. Er sagte, er hätte keine Angst gehabt, als er dastand und die Wespen ihn stachen und ihm wehtaten und er mir nachschaute, wie ich davonlief. Er wusste ja, dass er mir genügend Zeit lassen musste, weil die Wespen sich sonst auf uns beide gestürzt hätten.«
    Coraline drehte den Schlüssel im Schloss. Er bewegte sich mit einem lauten Klick.
    Die Tür ging auf.
    Hinter der Tür war keine Backsteinmauer; nur Dunkelheit. Ein kalter Wind wehte durch den Gang.
    »Und er sagte, es wäre nicht mutig von ihm gewesen, dass er stehen blieb und sich stechen ließ«, erzählte Coraline dem Kater. »Das war nicht mutig, weil er keine Angst gehabt hatte – ihm war ja nichts anderes übrig geblieben. Aber noch mal dort hinzugehen und seine Brille zu holen, als er schon wusste, dass die Wespen da waren, und er richtig Angst hatte – das war mutig.«
    Sie ging den ersten Schritt in den finsteren Korridor hinein.
    Sie konnte Staub und Feuchtigkeit und Moder riechen.
    Der Kater lief auf leisen Pfoten neben ihr her.
    »Und wieso?«, fragte der Kater, hörte sich allerdings nicht sonderlich interessiert an.
    »So ist das eben«, sagte Coraline, »wenn man Angst vor etwas hat, es aber trotzdem tut – das ist mutig.«
    Die Kerze warf riesengroße, seltsam flackernde Schatten an die Wand. Coraline hörte, wie sich in der Dunkelheit etwas bewegte – ob neben ihr oder ein Stück zur Seite, konnte sie nicht beurteilen. Was immer es auch sein mochte, es schien so, als hielte es Schritt mit ihr.
    »Und deshalb gehst du wieder in ihre Welt zurück?«, fragte der Kater. »Weil dein Vater dich einmal vor den Wespen gerettet hat?«
    »Sei nicht so blöd«, sagte Coraline. »Ich gehe ihretwegen zurück, weil sie meine Eltern sind. Und wenn sie bemerken würden, dass ich verschwunden bin, würden sie für mich bestimmt dasselbe tun. Weißt du eigentlich, dass du wieder
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher