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Commissario Pavarotti trifft keinen Ton - Kriminalroman

Commissario Pavarotti trifft keinen Ton - Kriminalroman

Titel: Commissario Pavarotti trifft keinen Ton - Kriminalroman
Autoren: Elisabeth Florin
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Ärgerliche. Man musste grundsätzlich mit zwei Karabinern gehen, weil man sonst in den Momenten, in denen man den Haken ausklinkte und um die Ösen im Fels führte, ungesichert war. Das kostete Zeit und Kraft.
    Er blieb stehen, bis sich sein Puls wieder beruhigt hatte. Dann zog er sich vorsichtig an dem Drahtseil entlang. Anstatt seinen Blick starr vor sich auf den Fels zu richten, ließ er ihn immer wieder zwanghaft dem Sog der Tiefe folgen. Die Neigung der Wand überschritt jetzt neunzig Grad, ein Überhang. Er erinnerte sich an den Moment, als er das erste Mal mit Hans vor einem Überhang gestanden hatte. Damals hatte er gelacht, als Hans ihm in seiner unnachahmlichen Art erklärte: »Ein Überhang ist ein Stück einer Route, deren Steilheit über das Senkrechte hinausgeht.« Jetzt lachte er nicht mehr, denn er konnte nicht einmal seine eigenen Füße sehen. Da war nur noch die Tiefe, wie ein riesiger Schlund. Ihm wurde schwindelig. Gleichzeitig überfiel ihn ein Brechreiz, seine Beine fühlten sich an wie Watte. Er hatte das Gefühl, im nächsten Moment den Halt zu verlieren. Wie sollte er jemals heil wieder nach Hause kommen?
    Doch da, vor ihm, ein größerer Tritt im Fels! Endlich. Dort würde er freihändig stehen und sich wenigstens einen Augenblick ausruhen können. Er hatte durch seine Touren und Bergläufe eine ausgezeichnete Kondition. Aber das hier war etwas völlig anderes. Diese Kombination aus Ausdauer, Kraft und Konzentration, das kannte er nicht. Dazu diese Hitze. Und die Angst. Er überwand sich weiterzugehen, ohne nach unten zu blicken, Schritt für Schritt. Nach einer Minute, die ihm vorkam wie eine Ewigkeit, hatte er endlich wieder festen Boden unter beiden Füßen. Vorläufig.
    Vincenzo Bellini war Commissario in der Questura di Bolzano und lange nicht mehr im Ahrntal gewesen. Bevor er nach Bozen versetzt wurde, hatte er in der Questura in Brixen gearbeitet. Von dort aus war das Pustertal mit seinen Nebentälern schnell erreichbar, aber seit er in Sarnthein bei Bozen lebte, hatte er sich vor allem die Dolomiten und die Sarntaler Alpen erschlossen. Doch heute war er mal wieder im Ahrntal, weil er mit Hans in der Hütte unterhalb des Schwarzensteins verabredet war – und dafür musste er erst diese vermaledeite Felswand hinter sich bringen.
    Zurück konnte er auf keinen Fall. Wenn er schon fast nicht hinaufkam, dann ging hinunter erst recht nicht. Und vor ihm lag, wie er erst jetzt entsetzt bemerkte, eine weitere, fast glatte Wand, noch etwas stärker überhängend. Durch sie war ein Drahtseil gelegt. Für die Füße gab es in beängstigend großen Abständen Eisenstifte, die in den Fels gerammt waren, natürliche Tritte und Griffe fehlten völlig. Erneut stieg Panik in ihm auf. Wäre wenigstens Hans hier!
    Als Hans mit ihm das Begehen ausgesetzter Klettersteige geübt hatte, war es ihm viel leichter gefallen. Das lag an Hans’ Fähigkeiten als Bergführer und seiner natürlichen Art. Er strahlte Ruhe und Souveränität aus, und trotz seiner Erfolge und seines physischen Leistungsvermögens war er ein zugänglicher, einfühlsamer Mensch geblieben. Niemals sprach er verächtlich über Leute, die ihre Grenzen schon bei einem Spaziergang auf dem von vielen Bergbahnen erschlossenen Kronplatz erreichten. Deshalb fühlte Vincenzo sich in seiner Gegenwart sicher.
    Sie hatten sich vor einigen Jahren bei einem Vortrag über Hans’ Expeditionen in den Himalaya kennengelernt. Seitdem trafen sie sich gelegentlich, wenn Hans nicht gerade wieder irgendeinen Achttausender bestieg, um zusammen eine Tour zu machen. Heute wollten sie den Schwarzenstein besteigen, fast dreitausendvierhundert Meter hoch. Mein Gott, was hatte er getönt: »Hans, plan mal was Anspruchsvolleres, einen Klettersteig, gerne mit größeren Höhenunterschieden! Ich möchte meine Grenzen kennenlernen.«
    Jetzt lernte er sie kennen. Und wie! Es war totenstill. Außer ihm war an diesem Vormittag niemand in der Wand, keine Stimmen, nichts. Niemand, der ihm sagte: Du schaffst das schon . Selbst die Krähen, die es in dieser Höhe gewöhnlich zuhauf gab, schienen vor der schwülen Hitze zu kapitulieren. Er fühlte sich einsam, verlassen und ausgeliefert. Aber es half alles nichts, er musste weiter. Vincenzo sah an der Wand entlang. Nach Hans’ Beschreibung müsste es danach einfacher werden. Noch eine senkrechte Leiter, dann sollte er den Zugang zur Hütte erreichen, wo Hans, der dort übernachtet hatte, bestimmt schon ungeduldig auf ihn
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