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Commissario Montalbano 05 - Das Spiel des Patriarchen

Commissario Montalbano 05 - Das Spiel des Patriarchen

Titel: Commissario Montalbano 05 - Das Spiel des Patriarchen
Autoren: Andrea Camilleri
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den Umschlag nahm er mit. In Wahrheit fehlte ihm der Mut, er fürchtete, den Gedanken, der ihm gekommen war, nachdem Ingrid fort war, in Nenè Sanfilippos Worten klar und deutlich bestätigt zu finden. Er ging, einen Fuß vor den anderen setzend, bis zum Leuchtturm und ließ sich auf dem flachen Felsen nieder. Stark war der herbe Geruch des Mooses, des grünen Flaums im unteren Bereich der Felsen, der mit dem Wasser in Berührung kam. Er sah auf die Uhr: Er hatte noch über eine Stunde Licht, wenn er gewollt hätte, hätte er gleich dort mit dem Lesen anfangen können. Doch noch schaffte er es nicht, er hatte nicht den Mut dazu. Und wenn sich Sanfilippos Werk am Ende als ausgemachter Schwachsinn entpuppte, als die flügellahme Fantasie eines Dilettanten, der sich einbildet, einen Roman schreiben zu müssen, nur weil er in der Volksschule den Auf- und den Abstrich gelernt hatte? Die lernt man heute ja auch nicht mehr. Und das war, falls ein solches überhaupt nötig war, ein weiteres Anzeichen dafür, dass er mittlerweile ganz schön alt war. Aber noch länger unentschlossen mit diesen Seiten in der Hand dazusitzen verursachte ihm la cardascia, eine Art Juckreiz auf der Haut. Vielleicht war es das Beste, nach Marinella zu fahren und sich zum Lesen auf die Veranda zu setzen. Er würde dieselbe Meerluft atmen.
     
    Auf den ersten Blick war ihm klar, dass Nenè Sanfilippo, um zu verbergen, was er wirklich schreiben wollte, sich derselben Methode wie bei der Aufnahme der nackten Vanja bedient hatte. Da begann das Band mit etwa zwanzig Minuten Getaway, hier dagegen waren die ersten Seiten aus einem berühmten Roman abgeschrieben: Ich, der Robot von Asimov.
    Montalbano brauchte zwei Stunden, bis er ihn ganz gelesen hatte, und je näher er dem Ende kam, umso deutlicher nahm, was Nenè Sanfilippo erzählte, Gestalt an, umso öfter griff seine Hand hastig nach dem Whiskyglas. Der Roman hatte kein Ende, er brach mitten im Satz ab. Doch was der Commissario gelesen hatte, reichte ihm vollauf. Vom Magen her packte stechender Brechreiz nach seinem Hals. Er konnte gerade noch an sich halten und rannte in die Toilette, kniete sich vor die Kloschüssel und begann zu kotzen. Er kotzte den Whisky, den er gerade getrunken hatte, kotzte, was er an diesem Tag, was er tags zuvor und wieder tags zuvor gegessen hatte, und es schien ihm, den schweißtriefenden Kopf inzwischen ganz in der Schüssel, einen Schmerz in der Seite, als kotze er ohne Ende sein ganzes Leben aus, immer weiter zurück, bis zu den Breichen, die er als kleines Kind gegessen hatte, und als er auch die Milch seiner Mutter von sich gegeben hatte, kotzte er immer noch Gift und Galle und puren Hass. Es gelang ihm, sich aufzurichten, indem er sich am Waschbecken festklammerte, doch er konnte sich kaum auf den Beine n halten. Er war sicher, dass Fieber in ihm hochstieg. Er steckte den Kopf unter den laufenden Wasserhahn. »Zu alt für diesen Beruf.« Er legte sich aufs Bett und schloss die Augen.
     
    Er blieb nicht lange liegen. Er stand auf, der Kopf schwirrte ihm, aber die blinde Wut, die ihn gepackt hatte, verwandelte sich jetzt in blanke Entschlossenheit. Er rief im Büro an.
    »Pronti? Pronti? Das hier wär das Kommissariat von …«
    »Catare, ich bin's, Montalbano. Gib mir Dottor Augello, wenn er da ist.« Er war da.
    »Was gibt's, Salvo?«
    »Hör genau zu, Mimì. Du und Fazio nehmt jetzt sofort einen Wagen, aber ja keinen Streifenwagen, und fahrt nach Santoli. Ich will wissen, ob die Villa von Dottore Ingrò überwacht wird.«
    »Von wem denn?«
    »Mimì, frag nicht. Wenn sie überwacht wird, dann natürlich nicht von uns. Und ihr müsst herausfinden, ob der Dottore allein oder in Gesellschaft ist. Nehmt euch genug Zeit, um euch dessen, was ihr seht, sicher zu sein. Ich hatte die Kollegen für Mitternacht bestellt. Wird abgeblasen, das ist nicht mehr nötig. Wenn ihr in Santoli fertig seid, gib Fazio auch frei, und du kommst zu mir nach Marinella und berichtest mir, was los ist.«
     
    Er legte auf, und das Telefon klingelte. Es war Livia. »Wieso bist du um diese Zeit schon zu Hause?«, fragte sie. Sie freute sich, doch es war mehr als Freude, sie war glücklich erstaunt.
    »Und wenn du weißt, dass ich um diese Zeit nie zu Hause bin, warum rufst du dann an?«
    Er hatte eine Frage mit einer Frage beantwortet. Aber er musste Zeit gewinnen, sonst hätte Livia, die ihn schließlich kannte, gemerkt, dass mit ihm etwas nicht stimmte. »Weißt du, Salvo, seit einer oder
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