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Commissario Montalbano 05 - Das Spiel des Patriarchen

Commissario Montalbano 05 - Das Spiel des Patriarchen

Titel: Commissario Montalbano 05 - Das Spiel des Patriarchen
Autoren: Andrea Camilleri
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fast einer Stunde geschieht etwas Merkwürdiges mit mir. Das ist mir vorher noch nie passiert, besser gesagt, noch nie so stark. Es ist schwer zu erklären.« Jetzt wollte Livia Zeit gewinnen.
    »Versuch's einfach.«
    »Na ja, es ist, als wäre ich da.«
    »Entschuldige, aber -«
    »Du hast Recht. Schau, als ich nach Hause kam, habe ich nicht mein Esszimmer gesehen, sondern deines, das in Marinella. Nein, das stimmt nicht genau, es war mein Zimmer, natürlich, aber zugleich war es deins.«
    »Wie es im Traum vorkommt.«
    »Ja, so ähnlich. Und seit diesem Augenblick ist es, als gäbe es mich zweimal. Ich bin in Boccadasse und gleichzeitig mit dir in Marinella. Es ist - es ist wunderschön. Ich habe angerufen, weil ich sicher war, dass ich dich erreichen würde.«
    Um nicht der Rührung zu erliegen, versuchte Montalbano sie mit einer spöttischen Bemerkung zu bezwingen.
    »Du bist ja nur neugierig.«
    »Worauf denn?«
    »Darauf, wie mein Haus aussieht.«
    »Aber ich -«, erwiderte Livia.
    Sie verstummte. Ihr war plötzlich das Spiel eingefallen, das er vorgeschlagen hatte: sich neu zu verloben, noch mal ganz von vorn anzufangen.
    »Ich würde es gern kennen lernen.«
    »Warum kommst du nicht?«
    Es war ihm nicht gelungen, den richtigen Ton zu treffen, eine wirkliche Frage war ihm entschlüpft. Und Livia merkte es. »Was ist los, Salvo?«
    »Nichts. Ich bin gerade schlechter Laune. Ein schlimmer Fall.«
    »Willst du wirklich, dass ich komme?«
    »Ja.«
    »Ich nehme den Flug morgen Nachmittag. Ich liebe dich.«
     
    Er musste sich die Zeit bis zu Mimis Ankunft vertreiben. Essen mochte er nicht, obwohl er von sich gegeben hatte, was überhaupt möglich gewesen war. Fast ohne seinen Willen nahm seine Hand ein Buch aus dem Regal. Er sah auf den Titel: Der Geheimagent von Conrad. Er wusste noch, dass es ihm gefallen hatte, sehr sogar, aber sonst erinnerte er sich an nichts. Oft geschah es, dass seine Erinnerung, wenn er die ersten Zeilen oder auch das Ende eines Romans las, eine kleine Schublade öffnete, aus der Figuren, Situationen, Sätze herauskamen. »Wenn Herr Verloc des Morgens ausging, überließ er den Laden der Obhut seines Schwagers.«
    So fing das Buch an, und diese Worte sagten ihm nichts. »Unbeargwöhnt und todbringend wie die Pest schritt er durch das Menschengewühl der Straße.« Das waren die letzten Worte, und sie sagten ihm zu viel. Und ein Satz aus diesem Buch fiel ihm ein: ».ohne Mitleid mit irgendeinem Lebewesen, sie selbst eingeschlossen - der Tod im Dienste der Menschheit - …« Hastig stellte er das Buch an seinen Platz zurück. Nein, seine Hand hatte nicht unabhängig von seinen Gedanken gehandelt, sie war, gewiss unbewusst, von ihm selbst geführt worden, von dem, was in ihm war. Er setzte sich in den Sessel, schaltete den Fernseher ein. Das erste Bild, das er sah, waren Gefangene eines Konzentrationslagers, nicht aus Hitlers Zeiten, sondern von heute. Wo in der Welt, wusste man nicht, weil die Gesichter all jener, die das Grauen erleiden, immer gleich sind. Er schaltete aus. Er trat auf die Veranda, sah lange aufs Meer hinaus und versuchte dabei im selben Rhythmus wie die Brandung zu atmen.
     
    War es die Tür oder das Telefon? Er blickte auf die Uhr: elf vorbei, zu früh für Mimì. »Pronto? Hier ist Sinagra.«
    Die dünne Stimme von Balduccio Sinagra, die wie eine Spinnwebe in einem Windstoß immer fast zu reißen schien, war nicht zu verkennen.
    »Sinagra, rufen Sie mich im Kommissariat an, wenn Sie mir etwas zu sagen haben.«
    »Warten Sie. Was ist los, haben Sie Angst? Dieses Telefon wird nicht überwacht. Es sei denn, Ihres wird überwacht.«
    » Was wollen Sie?«
    »Ich wollte Ihnen sagen, dass es mir schlecht geht, sehr schlecht.«
    »Weil Sie keine Nachricht von ihrem geliebten Enkelsohn Japichinu haben?«
    Das war ein Schuss unter die Gürtellinie. Und Balduccio Sinagra schwieg eine Weile, bis er den Schlag verdaut und wieder Atem geholt hatte.
    »Ich bin überzeugt, dass es meinem Enkelsohn, wo auch immer er ist, besser geht als mir. Weil meine Nieren nicht mehr funktionieren. Ich brauchte eine Transplantation, sonst sterbe ich.«
    Montalbano sagte nichts. Er ließ den Falken immer engere konzentrische Kreise ziehen.
    »Wissen Sie eigentlich«, fuhr der Alte fort, »wie viele Kranke so eine Operation brauchen? Wir sind mehr als zehntausend, Commissario. Wenn man wartet, bis man dran ist, hat man viel Zeit zum Sterben.« Der Falke war fertig mit Kreisen, jetzt musste er im
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